Im Zweiten Weltkrieg war die blonde Britin ein Star und die Stütze der Soldaten an der Front. Jetzt feiert sie ein Comeback - mit 92.

London. Dies ist eine Geschichte, die in die Geschichte zurückreicht - in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Es ist die Geschichte einer "English Rose" namens Vera Lynn, einer blonden Schönheit, die sich vor 1939 bereits einen Namen gemacht hatte auf Vaudeville-Bühnen und in Music Halls wie auch mit ihrer eigenen BBC-Radiomusikshow. Da fällt der Himmel über der Insel zusammen, am 3. September 1939, heute vor 70 Jahren, erklärt Neville Chamberlain Hitler-Deutschland den Krieg, und der Star der musikalischen Unterhaltung, Vera Lynn, glaubt, ihre Karriere sei zu Ende, jetzt gehe es ab in irgendeine Munitionsfabrik, zur Unterstützung der heimischen Industrie. Aber das Gegenteil tritt ein: Vera Lynns Karriere gewinnt erst jetzt richtig an Tempo, mit Liedern wie "We'll meet again" und "The White Cliffs of Dover" erzielt sie enorme Beliebtheit vor allem unter der kämpfenden Truppe, wo man dem Schmelz dieser pulsierenden Stimme aus der Heimat erliegt. In kürzester Zeit wird diese Frau zum Symbol einer von Optimismus durchtränkten Nostalgie, wird ihr Name synonym für patriotische Inspiration.

Kameraschwenk von anno 1939 zu anno 2009. In ihrem Landhaus in East Sussex lehnt sich die geadelte Dame Vera Lynn, inzwischen 92 Jahre alt, entspannt, aber formbewusst in den Sessel zurück und lächelt verwundert in die Kamera hinein. Denn sie ist in diesen Tagen, rechtzeitig zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns, mit einer CD ihrer beliebtesten Songs aus den 40er-Jahren in die Top-20-Chart der Musik-Alben aufgestiegen, die älteste Künstlerin der Musikszene, der dies je gelang. Eine Sensation. Sie hat in dieser Woche mit "The Very Best Of Vera Lynn" sogar die neuesten Alben von U2 und Eminem überrundet, "Namen, die ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal gehört habe", sagt sie vergnügt.

Wir haben es hier nicht mit einer Neuauflage des Phänomens Susan Boyle zu tun, jener 48 Jahre alten Schottin, die im Mai bei einem Talentwettbewerb des britischen Fernsehens als spätes Gesangswunder entdeckt worden war. Vera Lynn ist eine andere Kategorie, sie ist ein Stück vom Rückenmark der Kulturgeschichte Englands, ihr Name ruft Erinnerungen wach, wenn auch in vielen Fällen nur angelesene, aber selbst diese sind stark genug, auch unter der heutigen Generation Zuspruch zu wecken und neue Nachfrage.

Wie ist das zu erklären? Da ist zunächst das Evergreen-Moment: Die Melodie etwa von "We'll meet again, don't know - where, don't know when", 1939 zum ersten Mal erklungen, ist als Ohrwurm im Musikschatz der Insel erhalten geblieben wie unter Deutschen Marlene Dietrichs Lied aus dem "Blauen Engel", "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt". Das zweite Moment ist der Krieg beziehungsweise die Erinnerung daran. Im britischen Gefühlshaushalt noch immer die "finest hour" des 20. Jahrhunderts, die stolze Stunde des Widerstands gegen die Nazi-Tyrannei, steht der Zweite Weltkrieg für ein unauslöschliches Kapitel von Heroismus, Patriotismus und nationalem Zusammenhalt. Er kehrt von Zeit zu Zeit in die Gegenwart zurück wie das Memento verflossener Größe, wie jetzt das Album der 92-Jährigen mit ihren jahrzehntealten Aufnahmen. Dabei waren die Songs der Vera Lynn alles andere als heldentümliches Gebaren. Sie evozierten vielmehr pastorale Bilder eines friedlichen England, mit lachenden Kindern und Schäfern in Tälern unter blauem Himmel, eine Szenerie, in die zurückzukehren sie den Uniformierten Hoffnung machte.

Im Unterhaus lief zeitweilig sogar eine Kampagne, die Texte und deren Interpretin zu verbannen, da die Songs angeblich in der Truppe Sehnsüchte auslösen könnten und den Wunsch zu desertieren. Aber "The Forces Sweetheart" Vera Lynn, der Liebling der Truppe, setzte sich durch, nicht, weil sie zersetzte, sondern weil sie Zuversicht in harten Zeiten stiftete und zudem selber keinen Einsatz scheute. 1944 begab sie sich sogar für fünf Monate nach Birma, wo Briten gegen Japaner kämpften, und teilte mit den Soldaten die primitiven Konditionen des Lebens im Dschungel, mitsamt der Gefahren. "Auf Flügeln des Gesanges" kommt Vera Lynn in die Gegenwart zurück, als Memento zudem, wie klar und abrufbar die Kriegsziele einst waren - und wie eingetrübt in den gegenwärtigen Kämpfen in Afghanistan. Dieser Kontrast ist das dritte Moment, aus dem "The Best of Vera Lynn" seine neue Beliebtheit bezieht.