Von den 9.402 Personen, die im Jahr 2007 Suizid verübten, waren 42 Prozent älter als 60 Jahre. Über die Dunkelziffer lässt sich nur spekulieren.

Immer mehr ältere Menschen in Deutschland scheiden freiwillig aus dem Leben. Von den 9.402 Personen, die im Jahr 2007 Suizid verübten, waren 42 Prozent älter als 60 Jahre. Männer gingen diesen Schritt doppelt so häufig wie Frauen. Die Zahlen spiegeln indes nur die offiziellen Angaben über die Todesursache wider, die bei der Leichenbeschau vom Arzt gemacht werden; über die Dunkelziffer lässt sich nur spekulieren.

„Was nicht in die Statistik eingeht, ist eine Form des Sich-sterben-Lassens“, sagt Professor Martin Teising, der an der Fachhochschule in Frankfurt am Main zur Psychodynamik der Pflegebeziehung lehrt. Lebensnotwenige Medikamente würden nicht eingenommen, Essen und Trinken eingestellt. „Wenn das mit dem eindeutigen Ziel gemacht wird, aus dem Leben zu scheiden, ist das suizidal und wird wahrscheinlich in den meisten Fällen nicht erfasst“, sagt der Psychoanalytiker.

Der evangelische Theologe Andreas Mann erinnert sich noch gut an die Zeit, als er als Gemeindepfarrer in Wiesbaden die gesetzliche Betreuung für eine hochbetagte Frau übernommen hatte. Eine Einweisung in ein Pflegeheim war notwendig geworden. Es folgten sechs Jahre, in denen sie mit ihrem Schicksal haderte, „mir Vorwürfe machte und immer wieder Suizidgedanken äußerte“, erzählt Mann. Die Diagnose einer Altersdepression und ihre medikamentöse Behandlung änderten nichts daran. Die geistig klare und wache Frau verweigerte zum Schluss Essen und Trinken. Für Mann besteht kein Zweifel daran, dass dies „eine Form des Suizids“ war.

„Wir haben keine klaren Belege, ob es in Altenpflegeheimen mehr oder weniger Suizide gibt“, bedauert Teising, der auch Mitglied im Nationalen Suizid-Präventions-Programm ist. Die Erfahrung von Walter Ullrich, Seelsorger für alte und kranke Menschen im Darmstädter Elisabethenstift, ist, dass Selbsttötungen im Heim eher selten sind. „Dazu sind Betreuung und Aufsicht zu engmaschig“.

Allerdings sei das Vorliegen einer Depression bei einer Heimeinweisung eher die Regel als die Ausnahme. Meistens hätten ein Unfall oder eine akute Erkrankung die Einlieferung notwendig gemacht, erklärt Ullrich. Vorausgegangen seien oft Erfahrungen von Verlust und Krankheit, die jede für sich als Risikofaktoren für Depressionen gelten.

Der Ortswechsel könne eine weitere traumatisierende Erfahrung hinzufügen. Dies bestätigt auch Werner Gutmann, Seelsorger im Sozialpsychiatrischen Dienst des Frankfurter Hufelandhauses. Äußerungen wie „Am liebsten wäre ich tot“ höre er häufig von Menschen, die ins Heim kommen.

„Depression kann eine Ursache für eine Heimaufnahme und sie kann eine Reaktion darauf sein“, erklärt Teising. Depressionen, die als eine der Hauptursachen für Suizide gelten, äußerten sich zum Beispiel darin, dass jemand sein Leben nicht mehr bewältigen könne, dass der Antrieb verloren gehe und das Aufstehen und Anziehen zu unlösbaren Problemen würden. Für Familienangehörige sei es oft schwierig, das überhaupt als Krankheitssymptom zu verstehen, weiß Teising. „Dabei lässt sich eine Depression mit verschiedenen Ansätzen durchaus behandeln.“

„Der Gesetzgeber hat hierfür seit Anfang dieses Jahres eine Grundlage geschaffen“, berichtet Meinolf Peters, Geschäftsführer des Instituts für Alternspsychotherapie und angewandte Gerontologie in Marburg. Das neue Abrechnungssystem sehe vor, dass Besuche von Psychotherapeuten in Heimen wie ärztliche Hausbesuche abgerechnet werden könnten. Allerdings täten Therapeuten sich schwer, mit Älteren zu arbeiten, räumt Peters ein.

Psychotherapie mit Älteren erfordere mehr Flexibilität, sowohl im Gesprächsverhalten als auch in den therapeutischen Angeboten. Themen seien Konflikte mit den Kindern, Verluste, existenzielle Fragen wie die Konfrontation mit Krankheit und Tod. Nach den Erfahrungen von Peters kann gerade eine Heimeinweisung alte, unverarbeitete Traumata beispielsweise aus dem Krieg wiederbeleben und die Situation zusätzlich erschweren. Nicht immer sei Psychotherapie notwendig, wohl aber „psychotherapeutisches Denken“.

Auf die Tatsache, dass der Suizid eine der häufigsten Ursachen für einen unnatürlichen Tod ist, will auch der Welt-Suizid-Präventionstag am 10. September aufmerksam machen. Zudem soll er das Engagement und die Aktivitäten in der Suizidprävention fördern.