Nur noch wenige Tage sendet der Flugschreiber der abgestürzten Air-France-Maschine vom Grund des Atlantiks. Die Black Box ist für die Aufklärung des Unglücks unverzichtbar. Ein Report von Jan Haarmeyer

Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, bei dem die "Pourquoi Pas" in diesen Tagen die Weiten des Südatlantiks durchstreift. Das 110 Meter lange Spezialschiff des französischen Meeresforschungsinstituts Ifremer hat zwei Tauchboote an Bord, die bis zu 6000 Meter tief in den Ozean vordringen können. Sie sind auf der Suche nach Signalen aus der Tiefe. "Ping-ping" macht es irgendwo da unten. Aber nur noch wenige Tage senden die Flugschreiber des Air-France-Airbusses A 330, der in der höllischen Gewitternacht des Pfingstmontags ins Meer stürzte, ihre Töne.

Die Suchmannschaften stehen unter Druck. Denn wenn die Batterien der sogenannten Black Box nach spätestens 30 Tagen schwächer werden, können die Geräte nicht mehr geortet werden - und dann nehmen sie ihre Botschaften buchstäblich mit ins nasse Grab. Wenn die letzten Zeugen des Unglücks für immer verstummen, bleibt so etwas wie ein Loch in der Zeit. Und dann stirbt wohl auch die letzte große Hoffnung der Ermittler, das Rätsel um den Todesflug AF 447 noch aufklären zu können.

Warum die Black Box überhaupt Black Box genannt wird, weiß George Blau auch nicht. "Nein, keine Ahnung", sagt der 51-jährige Diplom-Ingenieur für Luft- und Raumfahrt, "denn das Ding ist ja orange lackiert, und nur dann schwarz, wenn es im Feuer gelegen hat und verkohlt ist." Mit dem "Ding" meint er den Flugschreiber, von dem immer dann die Rede ist, wenn irgendwo auf der Welt wieder ein Flugzeugunglück Menschenleben gefordert hat. Der Flugschreiber ist dann wahlweise Rettungsanker und letzter Zeuge, unbestechlicher Aufklärer und Hoffnungsträger der Unfallforscher.

Allerdings müssen diese beiden farbigen Blechkästen von der Größe eines Schuhkartons - einer für die Flugdaten, einer für die Cockpit-Tonaufzeichnungen - erst einmal gefunden werden. Bei den Resten des Air-France-Airbusses gestaltet sich die Suche extrem schwierig. Die mobilen Datenbänke befinden sich irgendwo zwischen Südamerika und Afrika auf dem zerklüfteten Grund des Atlantiks, der an dieser Stelle nach Schätzungen der französischen Marine zwischen 2000 und 4700 Meter tief ist. Eine rätselhafte Serie von Düsenflugzeug-Abstürzen in den Jahren 1953 und 1954, bei denen es weder Überlebende noch Augenzeugen gab, hatte den australischen Luftfahrttechniker David Warren auf die Idee der Datenaufzeichnung gebracht. Damals mussten Unfallforscher noch die Trümmerteile wie bei einem makabren Puzzle zusammensetzen. "Als wenn man mit einem über den Kopf gestülpten Sack auf die Suche ging", beschrieb der US-Wissenschaftler Bob Rudich die mühsame Kleinarbeit. David Warren, dem kurz zuvor ein neuartiges Mini-Tonbandgerät aufgefallen war, entwickelte ein Gerät, das sowohl die Gespräche im Cockpit als auch die Daten der Instrumente aufzeichnete und über einen Unfall hinaus sichern konnte. 1957 gab es einen Prototyp, aber erst zehn Jahre später schrieb Australien als erstes Land den Flugschreiber vor.

Moderne Recorder zeichnen heute digital bis zu 2500 Parameter in der Sekunde und Gespräche bis zu zwei Stunden auf. Die Ermittler können im Ernstfall eine Unmenge an Material über Höhe und Geschwindigkeit, Neigungswinkel, Ausschläge von Seiten-, Höhen- und Querruder, Klappenstellungen sowie zahlreiche technische Details der Triebwerke auswerten. Windgeschwindigkeiten werden ebenso erfasst wie der Zustand der Hydrauliksysteme, der Kabinendruck, die Treibstoffmenge und der Treibstoffzufluss zu den Düsenaggregaten.

Wenn man so will, ist George Blau ein Detektiv. Abstürze sind seine Fälle und die Flugschreiber seine Zeugen, die er zum Reden bringen muss, um den Fall aufzuklären. Seit 1991 forscht der Wissenschaftler, seit zwei Jahren leitet er in der Bundesstelle für Fluguntersuchung (BFU) in Braunschweig die Abteilung Flugschreiber. "Pro Jahr haben wir 40 bis 60 Fälle zu bearbeiten", sagt er. Macht in 18 Jahren knapp tausend Untersuchungen. "Langweilig wird es hier nie", sagt Blau über sein fünfköpfiges Forscherteam.

Immer wieder erzählen ihm die farbigen Boxen neue dramatische Geschichten. Früher konnten die Braunschweiger Experten Sicherheitsdefizite anhand von aufgestellten Tabellen und Grafiken nachvollziehen. Mittlerweile ist die Technik so weit fortgeschritten, dass mit den Daten, den Gesprächsprotokollen und einer passenden Software am Flugsimulator ein Unglücksflug noch einmal bildlich ablaufen kann. Wie im Film werden die letzten Minuten des Fluges sichtbar. George Blau kann dann wahlweise von oben, von unten oder von der Seite ins Cockpit blicken oder selbst am Steuerknüppel sitzen. Zusammen mit den Aufzeichnungen des Stimmenrecorders ist er in der Lage, einen Unfallhergang exakt zu rekonstruieren.

Techniker sind in der Regel eher nüchterne Analytiker, in deren Wortschatz die Vokabel Spekulation nicht vorkommt. Sie verlassen sich ausschließlich auf objektive Fakten und unbestechliche physikalische Daten. "Alles andere ist Stammtisch-Gerede", sagt Blau. Ihm geht es darum, aus den Zwischenfällen Erkenntnisse für alle künftigen Flüge zu gewinnen. Da ist es im Grunde egal, ob es sich um Katastrophen wie in Überlingen am Bodensee handelt, als Blau und sein Team am Abend des 1. Juli 2002 alarmiert wurden, dass eine russische Tupolew in 10 630 Meter Höhe mit einer Boeing 757 zusammengestoßen sei - damals starben 71 Menschen -, oder ob es darum geht, herauszufinden, warum ein Jet bei der Landung über die Landebahn hinausgerollt ist.

Es gibt Ereignisse, die ihm sofort präsent sind, wenn er nach seinen spektakulärsten Fällen gefragt wird. Einer ist der Absturz eines Birgenair-Fluges vor der Dominikanischen Republik im Februar 1996, bei dem 189 Menschen starben, hauptsächlich deutsche Urlauber. Blaus Team wertete den Stimmenrecorder aus.

"Mein Geschwindigkeitsmesser funktioniert nicht", sagte der Kapitän schon beim Anrollen. Und zwei Minuten nach dem Start: "Irgendwas stimmt nicht ... da ist etwas Verrücktes." Fünf Minuten später beginnt die Katastrophe. Der Jet ist zu langsam, die Strömung reißt ab. Die Aufzeichnung der letzten Minuten im Cockpit verrät ein Drama.

Kapitän: "Schubhebel, Schub, Schub, Schub, Schub." Kopilot: "Bremsen." Kapitän: "Schub. Nehmen Sie ihn nicht zurück, nehmen Sie ihn nicht zurück." Kopilot: "Okay, offen, die Drosselklappen offen." Kapitän: "Nicht schließen. Bitte nicht schließen." Kopilot: "Offen, Sir, offen ..." Kapitän: "Was ist da los?" Kopilot: "Was ist da los?" Das Warnsystem für zu große Bodennähe löst aus: "Hochziehen, ziehen Sie hoch." Kopilot: "Dann machen wir das."

Ende der Aufzeichnung. Die Boeing ist 100 Sekunden im Sturzflug, bevor sie auf dem Meer aufschlägt.

George Blau erinnert sich, dass als Unfallursache ein Wespennest ausgemacht wurde, das offenbar in dem Pitotrohr der Maschine gebaut worden war, während sie wochenlang unbenutzt auf dem Rollfeld gestanden hatte. Die Pitotröhrchen könnten auch beim Air-France-Absturz eine Rolle gespielt haben. Blau: "Sie sitzen an der Spitze des Flugzeugs unterhalb des Cockpits. Sie messen den Gesamtdruck, aus dem sich auch die Geschwindigkeit errechnen lässt."

Beim Birgenair-Absturz funktionierte die Anzeige nur beim Kopiloten, beim Kapitän zeigte sie falsch an. Blau: "Die Piloten haben sich nach der Anzeige des Kapitäns gerichtet - das war der Fehler." Irgendwann wussten die Piloten nicht mehr, ob sie zu schnell oder zu langsam flogen. "Die Maschine kippte zur Seite, geriet wegen zu geringer Geschwindigkeit ins Trudeln und außer Kontrolle."

So zynisch es sich anhören mag: Aus schweren Unglücken, die aufgeklärt werden, leiten die Forscher Sicherheitsempfehlungen für künftige Flüge ab. "Darin mündet alles, das ist unser Job", sagt Blau. Er hält es auch "theoretisch für denkbar", dass Flugzeuge ihre Daten ständig per Satellit zum Boden funken. Diese Diskussion werde momentan geführt, weil der Flugschreiber der Air-France-Maschine nicht gefunden werden könne. Die sogenannte Acars-Technik (Aircraft Communications Addressing and Reporting System), die schon heute in modernen Jets mitfliegt, könnte ins Spiel kommen, wenn die Boxen bei künftigen Abstürzen häufiger unauffindbar blieben. "Gerade dieses Unglück beweist, wie wertvoll die Technik sein könnte", sagte der US-Experte Robert Francis. Er hält es "für eine echte Schande der Luftfahrt", sollte der Air-France-Todesflug niemals aufgeklärt werden. Blau wendet ein, dass es "praktische, mit Flugschreibern vergleichbare Lösungen zurzeit noch nicht gibt". Auch Francis kennt die Einwände der Datenschützer. Er plädiert für eine Verschlüsselung und rät davon ab, Cockpitgespräche zu übertragen: "Die letzten Worte vor dem Tod gehören zur Intimsphäre."

Aber wie ist das, wenn man die verzweifelten Gesprächsfetzen der letzten Minuten im Leben zweier Menschen mitanhört? "Da darf man emotional nicht so tief einsteigen", sagt Blau. "Unfälle haben Ursachen, und die liegen immer in den Minuten davor. Wir müssen herausfinden, warum sich das Schicksal nicht mehr abwenden ließ." Wie bei AF 447.