Vom Westen fast unbemerkt bahnt sich in der muslimischen Welt eine Revolution an: In Marokko dürfen sich Frauen jetzt scheiden lassen, in Saudi-Arabien verfügen sie über Hunderte Milliarden Dollar, und in den Emiraten beherrschen sie Hörsäle und Verwaltung.

Hamburg. Lale Sadigh (31) und Sohre Watanchah (29) sind Rennfahrerinnen und provozieren Irans Sittenwächter bis aufs Blut. Offiziell dürfen Frauen nicht singen, nicht tanzen, sich nicht schminken und nicht einmal Fahrrad fahren. Aber Laleh Sadigh, die gerade ihren Doktor in Sportmanagement macht, ist ein Star: die einzige Frau im Iran und die vierte weltweit mit einer Formel-3-Lizenz. 2005 fuhr sie in der Teheraner Azadi-Rennbahn den männlichen Konkurrenten davon und wurde nach einer Sieges-Saison nationaler Champion in der 1600-ccm-Klasse. Sohre Watanchah, studierte Elektrotechnikerin, ist Profi und landete bei 35 Rennen 27 Mal unter den ersten drei.

Inzwischen dürfen beide nicht mehr im Iran starten: Der nationale Motorsportverband lässt gemischte Rennen nicht mehr zu. "Sie wollen nicht akzeptieren, dass ich eine Frau und trotzdem die bekannteste Rennfahrerin im Mittleren Osten bin", sagte Sadigh dem britischen "Guardian". "Sie hätten die Frau lieber mit Bratpfanne oder Bügeleisen in der Hand statt am Steuer eines Rennwagens." Jetzt starten die beiden woanders - Watanchah in Dubai, Sadigh in Marokko und in Bahrein. Sadigh gibt nicht auf und will es 2008 wieder in Teheran versuchen - in der 1800-ccm-Klasse mit einem BMW.

Lale und Sohre stehen beispielhaft für einen Umbruch, der nach und nach die gesamte islamische Welt erfasst. Und die treibenden Kräfte dabei sind nicht Mullahs, sondern die Frauen. Sie erkämpfen nicht nur mehr Rechte im Alltag, in der Politik und in der Rechtsprechung, sondern sie fragen auch nach: Wie wird Mohammeds geistiges Erbe ausgelegt?

Der Westen sieht Musliminnen vor allem als Opfer: diskriminiert, zwangsverheiratet, eingesperrt und oft ungebildet. Richtig ist, dass im Jahr 2006 noch jede zweite arabische Frau Analphabetin war. Und der Arab Human Development Report 2005 der Uno stellt fest, dass die Benachteiligung der Frau die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens blockiert.

Aber muslimische Länder erleben eine unglaubliche gesellschaftliche Dynamik. 2006 zeigten Umfragen in Jordanien, Marokko, Ägypten und dem Libanon ein neues Denken. Jeweils über 90 Prozent der befragten Männer und Frauen meinten, Mädchen sollten bis zur Hochschule die gleiche Bildung wie Jungen erhalten, ihren Ehepartner selbst aussuchen und hätten dasselbe Recht auf Arbeit wie Männer.

In Marokko hat ein 2004 verabschiedetes Familiengesetz die Rechte von Frauen bereits enorm verbessert: Sie sind jetzt gleichberechtigt und gemeinsam mit dem Mann verantwortlich für Haushalt, Familie und Kindererziehung. Die Pflicht der Frau, ihrem Mann zu gehorchen, wurde abgeschafft. Sie kann auch die Scheidung einreichen, Unterhalt und das Sorgerecht für die Kinder bekommen. Dort wie anderswo schloss - oder schließt noch immer - die bisherige Tradition der Rechtsprechung Frauen in vielen Bereichen aus, wegen der patriarchalischen Auslegung des Islam

Wo Reformen bereits greifen, nimmt die Zahl scheidungswilliger Frauen explosionsartig zu, wie in Europa oder Amerika. In der Praxis konnten oft nur Männer die Scheidung einreichen, Millionen Frauen blieben in einer unglücklichen Ehe gefangen. Die Unzufriedenheit damit war groß und hat 2004 auch im konservativen Ägypten zu einer Reform des Familienrechts geführt, an der Mitglieder des Nationalen Frauenrats beteiligt waren.

In Marokko, Jordanien und Syrien hat ein Generationswechsel stattgefunden. Die heutigen Herrscher und ihre Ehefrauen haben westliche Schulen besucht und wollen Traditionen umkrempeln. In der Golfregion war es die Rolle als internationaler Finanzplatz, die zu einem Bildungsschub in den Familien führte und längst auch Mädchen erfasst.

Der 2004 verstorbene Emir der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Scheich Zayed al-Nahyan, hat Universitäten für Frauen gegründet und massiv die Schulbildung der Mädchen gefördert. Inzwischen besuchen 85 Prozent der Mädchen in den VAE eine Schule, mehr als die Hälfte von rund 22 000 Studierenden sind weiblich. Frauen stellen in den Emiraten 27 Prozent der Arbeitskräfte, in den Behörden 66 Prozent. Nach einem Bericht des Informationsdienstes Qantara gibt es bereits rund 10 500 Unternehmerinnen, die mit Investitionen in Höhe von vier Milliarden US-Dollar jonglieren.

In Oman, Katar und Kuwait haben Frauen inzwischen das Wahlrecht. Aber noch ist jeder kleine Schritt mühsam. Fatima al-Abdali, Ingenieurin der Kuwait Oil Company und Aktivistin der Frauenbewegung, vertritt ihr Land auf internationalen Konferenzen, "aber um einen Reisepass zu beantragen, muss ich meinen Mann um seine Unterschrift bitten."

Ein Beispiel für den subtilen Druck der Moderne ist auch das extrem frauenfeindliche wahhabitisch-islamische Regime von Saudi-Arabien. Kürzlich wurde in Jiddah eine Angestellte inhaftiert, weil sie während eines Stromausfalls in ihrem Büro mit einem nicht verwandten Kollegen bei Starbucks Kaffee getrunken hatte. Aber der Fachzeitschrift "Middle East Economic Digest" zufolge liegt mehr als ein Drittel des privaten Reichtums in Saudi-Arabien 330 von insgesamt 1200 Milliarden US-Dollar in den Händen von Frauen. Damit dieses Geld arbeiten kann, müssen Frauen studieren, Geschäfte machen und reisen dürfen.

Seit den 70er-Jahren dürfen sie Universitätsdiplome erwerben, 1986 stellten sie schon 32 Prozent der Dozenten. Seit 2007 haben Frauen nun erstmals Anspruch auf einen Pass, dürfen allein in einem Hotel einchecken und übernachten. Erstmals wurde eine Frau in den Vorstand einer Industrie- und Handelskammer gewählt. Und die Politologin Thurayya al Shehri, Kolumnistin großer saudischer Zeitungen, wird nicht müde zu schreiben, dass die rechtliche Benachteiligung der Frauen absolut nicht mit dem Koran zu begründen sei.

Ähnlich argumentieren Frauen in Südostasien, die mit großem Mut gegen den wachsenden Druck ultrakonservativer Islamisten ankämpfen. In 16 der 32 Provinzen Indonesiens wurden bereits Teile der Scharia eingeführt, im Ehe- und Arbeitsrecht sind Frauen nicht gleichberechtigt. Die muslimische Frauenorganisation Rahima baut jetzt gezielt ein Netzwerk zu den Koranschulen für Männer (Pesantren) auf, die als Nährboden des Islamismus gelten. "Nur so können wir unsere Vorstellungen von einem moderaten, demokratischen und gleichberechtigten Islam voranbringen", sagt die Rahima-Direktorin Aditiana Dewi Erdani. In Indonesien leben mehr Muslime (198 Millionen) als in jedem anderen Land der Welt.

In Malaysia kämpft die Frauenorganisation "Sisters in Islam" (SiS) mit dem Koran in der Hand. Das Familienrecht wurde seit den 90er-Jahren immer weiter verschärft: Männer können sich jetzt per SMS von ihrer Frau scheiden lassen, die Polygamie ist wieder erlaubt. Die Politologin Farish Noor spricht von einer Talibanisierung. Und die SiS-Aktivistin Yati Kaprivati sagte im Interview mit Qantara: "Der Prophet Mohammed hat das Recht und Ansehen der Frauen zu seiner Zeit radikal verbessert. Genau dieses Recht fordern wir zurück."

Die meisten Musliminnen in den beschriebenen Ländern begreifen Kopftuch oder Schleier als Symbol ihrer religiösen Selbstbestimmung. "Fundamentalistische und feministische Bewegungen stehen sich heute diametral gegenüber", schreibt Marokkos bekannteste Frauenrechtlerin Fatima Mernissi: Beide Bewegungen haben sich in der arabischen Welt schon seit den 1930er-Jahren parallel verbreitet. Die eine erfasste vor allem Männer vom Lande mit geringer Bildung, die andere Frauen aus der Ober- und Mittelschicht. "Die Fundamentalisten beanspruchen das Monopol, im Namen Gottes zu sprechen", schreibt die Soziologin. Aber Frauen fordern das Recht auf Gott und die Teilhabe an der Welt zurück: "Die Moschee und der Koran gehören den Frauen ebenso wie die Satelliten am Himmel."