Wie konnte das passieren? Vergewaltigte Schülerin wird heute nicht vor Gericht aussagen.

Dresden. "Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses Schwein so gefährlich ist. Aber man hat es immer ignoriert, man hat es ignoriert, man hat es ignoriert." Aus Joachim R., dem Vater der 14-jährigen Stephanie aus Dresden, sprudelt die Empörung vor einer Kamera des TV-Senders N24 nur so heraus, nachdem es dem Peiniger seiner Tochter gelungen war, vor den Augen von zwei Justizbediensteten auf ein Gefängnisdach zu klettern.

Der vorbestrafte Triebtäter Mario M. (36) hatte sich bei einem Hofgang im Dresdner Gefängnis morgens gegen 7.24 Uhr von seinen Bewachern losgerissen und war die zehn Meter hohe Fassade mit vergitterten Fenstern hinaufgeklettert. Dort harrte er stundenlang aus - bis in die Nacht hinein. "Das ist doch unfassbar!", sagte Stephanies Vater. Schließlich hatte Mario M. bereits am Montag, dem ersten Prozesstag im Landgericht Dresden, für Tumulte im Gerichtssaal gesorgt und konnte erst von mehreren Polizisten überwältigt werden. Dort ist der Sexgangster angeklagt, Stephanie fast fünf Wochen lang eingesperrt, vergewaltigt und missbraucht zu haben.

"Wie kann so ein Mensch Hofgang kriegen?", empörte sich Joachim R. "Der müsste genauso an Fesseln im Knast sitzen, so wie er es mit der Stephanie gemacht hat. Und was macht er? Spazieren gehen. Und dann kann er sich noch aufs Dach stellen und posieren. Ich fasse es nicht."

Bei dem Prozess, der heute fortgesetzt wird, wollte Stephanie eigentlich aussagen. Doch nach der neuerlichen Justizpanne zog die Schülerin ihre Bereitschaft zurück. Ihr Vater: "Ich will erstens nicht, dass meine Tochter den totalen Rückschlag kriegt." Außerdem müsse er für ihre Sicherheit jetzt selbst sorgen. "Ich kann mich hier auf niemanden mehr verlassen. Es ist traurig, aber wahr."

Und Mario M.? Er spazierte auf dem Dach hin und her, lachte in die Kameras und kam der Kante immer wieder bedrohlich nahe - mehrmals tat er so, als würde er gleich in die Tiefe springen. Zwei Polizeipsychologen wurden gegen 10 Uhr per Hebebühne zu ihm hinaufgehievt. Sie warfen ihm einen Beutel zu, in dem sich eine Wasserflasche und ein Zettel befanden. Mario M. las den Zettel, lächelte leicht, steckte ihn zunächst in die Hosentasche und warf ihn dann doch in Richtung der beiden Männer zurück. Diese rückten auf ihrer Bühne dann näher an ihn heran und redeten auf ihn ein. Stundenlang. Doch trotz Kälte und Dunkelheit gab Mario M. nicht auf. "Wir setzen weiter auf eine Gesprächslösung", sagte Polizeisprecher Marko Laske. Diplompsychologe Fredi Lang: "Der Täter will hier Machtbewusstsein demonstrieren und zeigen, dass er am längeren Hebel sitzt." Einen Selbstmordversuch schloss Lang aber aus. "Wenn er nicht direkt selbst versucht, sich mit einer harten Methode umzubringen, kann man immer davon ausgehen, dass es sich um einen Hilferuf, um einen Appell handelt."

Seine Motive sind unklar. Bisher stellte er noch keine konkreten Forderungen. Experten vermuten, das Ziel von Mario M. könnte sein, die Öffentlichkeit von der Berichterstattung über den Fall Stephanie auszuschließen oder die Berichterstattung geringer zu halten, um eigene Belastungen im Gerichtssaal zu vermeiden. Denkbar sei auch, dass er verhindern wollte, dass die Mitgefangenen in den Haftanstalten etwas über die Einzelheiten seiner Taten mitbekommen. Psychologe Lang: "Wenn die Mitgefangenen diese Details mitkriegen, bekommt er dort natürlich auch noch mal eine andere Rückmeldung, als wenn die nur allgemeine Fakten wissen." Kinderschänder stehen in der Häftlings-Hierarchie an unterster Stelle.

Nach zwölf Stunden Nervenkrieg zog die Polizei gestern Abend ihr Psychologenteam zurück, die Hebebühne wurde wieder eingefahren. Kamerateams wurden aufgefordert, Lichtquellen nicht in Richtung Dach zu richten. "Es geht darum, die Einsatzkräfte auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt nicht zu gefährden." Vorbereitung für einen Zugriff durch ein Sondereinsatzkommando?

Stephanie ging gestern wie üblich zur Schule. Ihr Rechtsbeistand Thomas Kämmer: "Sie wurde dort von einem Psycholgen informiert." Das Mädchen sei total geschockt. "Sie wird heute nicht vor Gericht aussagen, weil wir nach der neuen Polizeipanne nicht davon ausgehen können, dass ihre Sicherheit gewährleistet ist."