Neubritannien: Wenn die Ahnen es wollen, kommt es auch heute noch zu blutigen Stammesfehden. Wo die Geister die Macht haben. Das Abendblatt begleitete Antje Kelm vom Völkerkundemuseum bei ihrer Feldforschung in Papua-Neuguinea.

Rabaul/Papua-Neuguinea. Am 10. Juni flog die Hamburger Ethnologin Antje Kelm vom Museum für Völkerkunde mit einer Maschine der Air Niugini von Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea, nach Rabaul auf der nördlich vorgelagerten Insel New Britain. Wie jedes Jahr zu dieser Zeit war sie auf dem Weg zu einem mehrwöchigen Aufenthalt, den sie für ihre Feldforschung in jenem Gebiet nutzen wollte, in dem fast 100 Jahre zuvor eine Hamburger Expedition die Kultur der Melanesier erforscht hatte. Die berühmt gewordene "Hamburger Südsee-Expedition", die Ende Juli 1908 mit dem von der Hapag gecharteten Spezialschiff "Peiho" in Rabaul eingetroffen war, hatte damals zahlreiche besonders wertvolle Artefakte erworben und mit nach Hamburg gebracht. Von den bedeutendsten Stücken dieser Sammlung, die heute zu den kostbarsten Exponaten des Völkerkundemuseums gehören, hatte Dr. Kelm Fotografien im Gepäck, die sie dem hiesigen Museum übergeben wollte.

Doch jetzt las sie im Flugzeug einen Zeitungsbericht, der ihre Pläne durcheinanderbrachte: Ausgerechnet in Mope, dem Gebiet, in dem sie sich mit einheimischen Informanten treffen wollte, um von ihnen etwas über die Mythen ihrer Ethnien zu erfahren, war vor wenigen Wochen eine blutige Fehde ausgebrochen, die mehrere Todesopfer gefordert hatte. Der Anlass war nichtig, nach europäischen Vorstellungen kaum der Rede wert, aber Dr. Kelm war sich sicher, dass es in Wahrheit um weit mehr ging. Es war kein Krieg zwischen zwei Stämmen, sondern zwischen zwei lokalen Gruppen innerhalb der Sulka, die vor reichlich 100 Jahren von der deutschen Kolonialverwaltung in dem küstennahen Urwaldgebiet auf New Britain angesiedelt worden waren.

In Vunapope, der großen katholischen Missionsstation, in der die Wissenschaftlerin während ihres von der Hamburger Edmund-Siemers-Stiftung finanziell unterstützten Forschungsaufenthalts stets wohnt, erfuhr sie erste Einzelheiten. Grundsätzlich stellte sich aber die Frage, ob sie das Gebiet, in dem noch immer eine Art Ausnahmezustand herrschte, ungefährdet betreten konnte. Da sie mit Angehörigen beider Gruppen seit Jahren gut bekannt war und ihrer Meinung nach wenig Gefahr bestand, als parteiisch betrachtet zu werden, ging sie das Risiko schließlich ein. "Mir fiel aber schon auf, dass die Stimmung ganz anders war als sonst. Alle Männer, die mir begegneten, waren bewaffnet und auf äußerste Vorsicht bedacht", sagt die Ethnologin, die selbst längere Zeit in Papua-Neuguinea gelebt hat und fließend Pidgin spricht. Schließlich wurde sie von Angehörigen beider Parteien empfangen und bekam deren jeweilige Versionen vom Ausbruch der Feindseligkeiten zu hören.

Vier Wochen später begleitete ich sie auf dem Weg ins "Kriegsgebiet", auf einem Weg, der manchmal kaum mehr befahrbar erscheint, vor allem nicht für unseren betagten Toyota, der keinen Allradantrieb hat. Schon ein paarmal sind wir im tiefen Morast fast stecken geblieben. Keine angenehme Vorstellung, mitten im tropischen Regenwald festzusitzen und nicht zu wissen, ob uns die Einheimischen, die gerade mitten in einem Konflikt stecken, als Freunde betrachten.

Schließlich erreichen wir Ganai, das Dorf jener Partei, die drei Todesopfer zu beklagen hat. 1908 besuchten die Hamburger Forscher auch dieses Dorf, das unweit der Mündung des Warangoi-Flusses liegt, und kaufte hier einige besonders wertvolle Masken. Anton, der Clanchef, der uns empfängt, weiß aus den Erzählungen seiner Großeltern, dass vor langer Zeit ein Schiff mit weißen Männern den Warangoi hochgefahren ist. Doch heute geht es ihm nicht um alte Geschichten, sondern um den Krieg, bei dem er einen Familienangehörigen verloren hat. Er erzählt von der Trauerzeremonie, für die sieben Schweine geschlachtet und 72 Taschen Reis gekocht wurden. "Die Trauer führt die Verwandten zusammen, sie bietet auch die Chance, nüchtern auf den Streit zurückzublicken und nach ersten Möglichkeiten der Versöhnung zu suchen", sagt Antje Kelm. Doch noch herrscht Krieg in Mope. Clary, der junge Mann, der sich als Fahrer angeboten hat und nun unser Auto mit großem Geschick durch den Schlamm steuert, bremst auf einmal und steigt aus. Wir können keine Grenze erkennen, doch er will nicht weiter, denn hier beginnt Feindesland. Da er an den Kämpfen beteiligt war, wäre er von jetzt an in Lebensgefahr.

Jetzt muss Antje Kelm wieder selbst fahren, zum Glück ist die Straße hier etwas besser. Kurz darauf erreichen wir Vunabaur, das Dorf der Gegner. John Sakle bittet uns in sein Haus. Der alte Zauberer, der mit seiner Familie hier lebt, soll mit schwarzer Magie ins Geschehen eingegriffen haben. Die Polizei hat ihn verhaftet, dann aber doch wieder freigelassen. Zauberei ist hier ein sehr reales Phänomen, nur justiziabel ist sie nicht. William, John Sakles Sohn, erzählt uns seine Sicht der Dinge, die von der Darstellung, die wir kurz zuvor in Ganai gehört haben, erheblich abweicht. Ausgangspunkt war zu Ostern dieses Jahres eine Auseinandersetzung zwischen betrunkenen Jugendlichen aus Ganai und der Krankenschwester des unweit entfernten medizinischen Hilfspostens, der Ehefrau des Gemeinderats. Nachdem sich der Konflikt hochgeschaukelt hatte, wurde das Schwein des Gemeinderats erschlagen und das Fleisch mitgenommen. Daraufhin kam es zu einem Kampf mit Keulen und Buschmessern, bei dem der Gemeinderat schwer verletzt und drei Angehörige des Ganai-Clans getötet wurden.

Inzwischen hat die Polizei Verdächtige, darunter auch Williams Bruder, verhaftet. Sie sitzen noch immer bei brütender Hitze im offenen Käfig des Gefängnisses von Kokopo, das zu deutscher Zeit Herbertshöhe hieß. Der Prozess soll demnächst stattfinden, aber klären oder gar bereinigen wird er sicher nichts. "Das läuft hier nicht nach geschriebenen Gesetzen. In Wahrheit geht es auch nicht um ein getötetes Schwein, sondern um Verhaltensmuster, die tief in der Tradition und Kultur dieser Menschen verankert sind", erklärt Antje Kelm auf der Rückfahrt nach Kokopo. Denn obwohl seit der Hamburger Südsee-Expedition fast 100 Jahre vergangen sind, obwohl Technik und Zivilisation in dieser Zeit riesige Fortschritte gemacht haben, hat sich im Denken der Sulka, der Tolai und der Baining, jener Stämme, die hier in Neubritannien leben, nicht viel geändert. Offiziell sind sie Christen, doch noch immer leben sie mit Geistern und Ahnen. Die Masken, die im stets verschlossenen Männerhaus verwahrt und nur zu Festen hervorgeholt werden, sind für sie magische Gegenstände.

Antje Kelm kennt die Grenzen, die auch ihr gesetzt sind, weiß genau, wie weit sie Einblick nehmen kann und was sich ihrem Blick immer entziehen wird. Bei unseren Besuchen in den Dörfern der Einheimischen bleibt sie manchmal plötzlich stehen. "Weiter können wir nicht gehen, das ist verbotenes Terrain", sagt sie und zeigt auf einen Bretterverschlag. Dort lagern nicht nur die Masken, dort sind auch die Ahnen gegenwärtig. Sie leben nicht nur in der Erinnerung, sondern haben Teil am Alltag. "Wenn sie Blut fordern, dann müssen sie mit Blut beruhigt werden", sagt Dr. Kelm: "Das ist vermutlich der wirkliche Grund für den Krieg zwischen den beiden Gruppen."

Tags darauf sind wir um 10 Uhr im Museum vom Kokopo verabredet. In einem Festakt sollen die Fotografien der Masken, die sich seit knapp 100 Jahren in Hamburg befinden, dem Museum übergeben werden. Wir sind pünktlich zur Stelle, aber unsere Gastgeber haben den Termin offenbar vergessen. Nelson Paulias, dem als Tourist Executive Officer von East New Britain zugleich das Museum untersteht, gelingt es immerhin innerhalb von 30 Minuten, einige Honoratioren sowie zwei Lokaljournalisten aufzutreiben, sodass der Festakt dann doch mit der gebotenen Würde stattfinden kann. Dr. Kelm erzählt in ihrer Rede von den wertvollen Masken, die sich im Museum an der Rothenbaumchaussee befinden, berichtet, wann und wo sie damals erworben wurden und welche Bedeutung sie besitzen. "Eine Rückgabe wäre wünschenswert, ist aber aus konservatorischen Gründen nicht möglich, doch die Fotos vermittelten einen Eindruck von der Schönheit dieser Objekte", sagt sie. Nelson Paulias bedankt sich und sagt, dass die Menschen in New Britain heute stolz darauf sind, dass die kostbaren Masken im fernen Hamburg Zeugnis von ihrer Kultur ablegen. Dann reicht er Antje Kelm zum offiziellen Foto die Hand. Es wird geklatscht und gelächelt, doch was unsere Gastgeber tatsächlich dabei empfinden, werden wir nie erfahren.

Für die Einheimischen sind die Masken viel mehr als Kunstwerke. Das musste ein niederländischer Kunsthändler erst kürzlich schmerzhaft erfahren. Er hatte mehrere wertvolle Masken erworben und wollte sie nach Europa ausführen. Im letzten Moment wurde die Sendung auf dem Jackson-Airport von Port Moresby gestoppt. Später bekam der Kunsthändler ein amtliches Schreiben von der Staatlichen Kulturkommission zugestellt, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass die Masken leider nicht ausfuhrfähig gewesen seien, weil ihnen ein Zauber anhafte. Man habe sie rituell verbrennen müssen.