Giorgio Basile: Erst tötete er selbst, dann sagte er gegen 80 andere Mafiosi aus. Jetzt versteckt ihn die Polizei. Wie ein fröhliches Gastarbeiterkind in die Führung der 'Ndrangheta aufstieg: Ein neues Buch erhellt das Innere der archaischen Verbrecherorganisation.

Hamburg. Angst? So will Andreas Ulrich das Gefühl nicht nennen, das ihn beschleicht, als er durch die engen Gassen von Corigliano läuft. "Aber irgendwie ist mir mulmig." Der 42jährige fühlt sich vom ganzen Dorf beobachtet. Wenn der große blonde Mann aus Deutschland um die Ecke biegt, werden vor ihm Türen verschlossen und Fensterläden zugeklappt. Andreas Ulrich ist auf den Spuren von Giorgio Basile, der dem Carelli-Clan der kalabrischen 'Ndrangheta angehörte und an der Ermordung von 30 Menschen beteiligt gewesen sein soll.

Basile, der in seiner Organisation den Spitznamen "Engelsgesicht" trug, wurde 1960 in Corigliano geboren. Als "Spiegel"-Redakteur Andreas Ulrich durch Basiles Heimatdorf läuft, um dessen Lebensgeschichte für ein Buch zu recherchieren, ist es März 2005, 45 Jahre später. Der Italiener, der 1998 in Deutschland von der Polizei gefaßt wurde, lebt inzwischen als freier Mann irgendwo in Italien. Er hat als Kronzeuge ausgesagt und rund 80 Mafiosi hinter Gitter gebracht. Dafür wurde Basile ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen; die italienische Polizei verbirgt und schützt ihn. Aus seinem Versteck erzählte er dem Journalisten Ulrich seine Geschichte. Eine Geschichte von der "ehrenwerten Gesellschaft", von Verrat und von Tod.

Basile hat die Omertà, das Schweigegelübde der "ehrenwerten Gesellschaft", gebrochen. Seine Verhaftung in Kempten im Allgäu war einer der spektakulärsten Schläge gegen die Mafia - und Basiles Entscheidung zu reden brachte die Ermittler entscheidende Schritte weiter. "Bis heute munitioniert er die Ankläger immer wieder", berichtet Ulrich. Dafür lebt Basile das Leben eines Totgeweihten. Er ist sicher, daß er selbst irgendwann im Kugelhagel stirbt. "Die Mafia-Bosse sitzen wegen mir hinter Gittern. Die Belasteten können mir nichts mehr tun, aber ihre Söhne werden sich rächen", sagt Basile.

"Es regnete Bindfäden an diesem kalten Novemberabend in Holland." Mit diesem Satz beginnt der frühere Abendblatt-Redakteur Andreas Ulrich zu erzählen, wie Giorgio Basile seinen eigenen besten Freund tötete. "Drei Männer gingen an der Landstraße bei Arcen entlang. Sie redeten kaum. Eine Straßenlaterne schickte trübes Licht in die feuchte Dunkelheit. Nur selten erhellten Lichtkegel vorbeifahrender Autos die Nacht. ,Mimmo, da sind Schafe. Siehst du einen Hirten?' fragte der kleinste der drei Männer den anderen, der vor ihm ging. ,Da ist kein Hirte', antwortete der. ,Gut', sagte der Kleinere. Dann zog er eine Pistole und schoß dem Vordermann aus kurzer Entfernung in den Hinterkopf. Der fiel um, war aber noch nicht tot und rief: ,Nein, tu es nicht!' Der Schütze setzte den Lauf der Waffe an die Stirn seines Opfers und drückte noch einmal ab. ,Hilf mir', befahl er dem dritten Mann. Sie rollten den Toten einen Abhang hinunter zu einem Entwässerungsgraben, dort schoß der Mörder seinem Opfer noch zwei Kugeln in den Kopf, zur Sicherheit." Der Schütze war Basile. Ein halbes Jahr später nahm die Polizei ihn fest.

Aber wie wurde aus Giorgio, einem fröhlichen Mülheimer Gastarbeiterkind aus Italien, der für seine Kaltblütigkeit berüchtigte Killer Basile? Was muß geschehen, damit alle Skrupel fallen, einen Menschen zu töten? Und warum bricht der Mörder, der jahrelang nach den strengen Regeln der kalabrischen Organisation 'Ndrangheta lebte, schließlich mit seinen Komplizen und arbeitet mit der Polizei zusammen? Mit der Lebensgeschichte des "Engelgesichts" gibt Ulrich bislang unbekannte Einblicke in das Innere der archaischen Verbrecherorganisation.

Giorgio Basile ist ein Jahr alt, als er nach Deutschland kommt. Sein Vater hat im Ruhrgebiet Arbeit gefunden, und so zieht die Familie aus dem malerischen, aber armen Corigliano Calabro im Süden Italiens in das Land der rauchenden Schlote, in eine Barackensiedlung an der Friedhofstraße in Mülheim an der Ruhr. Doch das Leben ist nicht gut dort, die Eltern streiten sich ständig, die Kinder werden selten satt. 1966 beginnt die Mutter ein Verhältnis mit einem Mann aus der Heimat: Antonio de Cicco. Als der Vater dahinterkommt, trennen sich die Eltern.

De Cicco kümmert sich um die Frau und die Kinder, sie ziehen mit ihm zurück in die Heimat. Antonio ist das Gegenteil von Giorgios Vater, ein kräftiger Mann mit einem mächtigen, schwarzen Schnurrbart. Er trägt elegante Anzüge, ein stets offenes Hemd und eine schwere Goldkette auf der Brust. Ganz Corigliano fürchtet diesen Mann, den örtlichen Boss der 'Ndrangheta.

Dem kleinen Giorgio vermittelt de Cicco alles: Liebe, Wohlstand, Respekt. Es gibt jetzt regelmäßig etwas zu essen, Giorgio trägt feine Hosen und sogar Strümpfe. Als seine Mutter aber 1968 von de Cicco schwanger wird, zwingen ihre Verwandten sie, nach Deutschland zurückzugehen. Sie wollen die Schande im Ort mit den strengen katholischen Werten nicht ertragen, und dagegen kann selbst de Cicco nichts machen. Gerade Mafiosi müssen sich an die Regeln halten, und die Familienehre gilt als höchstes Gut.

Basile verliert den Kontakt zu seinem Ziehvater. Bis dieser 1979 völlig unerwartet wieder in Mülheim auftaucht. "Komm' zurück nach Italien. Du kannst für mich arbeiten", sagt der Mafioso dem Teenager. Er spricht vom Meer und vom guten Essen, von schönen Mädchen und schnellen Autos. De Cicco setzt ihn zunächst als Fahrer ein. Giorgio bekommt mit, daß er Firmen und Geschäfte besucht und stets mit Briefumschlägen voller Geld wieder herauskommt. De Cicco stellt den Fahrer als seinen Neffen vor, sagt: "Behandelt ihn gut!" Nie muß der 19jährige bezahlen. Wildfremde Männer spendieren ihm Drinks, nicken ihm auf der Straße unterwürfig zu. Giorgio genießt das.

Doch der Neffe des Bosses bekommt auch mit, was passiert, wenn man sich mit der 'Ndrangheta anlegt. In einer Männerrunde auf de Ciccos Grundstück nahe Corigliano fallen de Cicco und andere plötzlich über einen Mann her. Als der ohnmächtig ist, fast schon tot, schleppen sie ihn zum Schweinestall. Dort stürzen sich die Schweine auf den Ohnmächtigen, graben ihre starken Kiefer in das Menschenfleisch. In kurzer Zeit ist von dem Mann fast nichts mehr übrig. "Das passiert mit Leuten, die einen Fehler machen", sagt de Cicco zu Basile.

Doch dann macht de Cicco selbst einen folgenschweren Fehler. Basile erfährt, daß sein Ziehvater seine Schwester mißbraucht hat. Er beweist langen Atem, wartet Jahre. De Cicco verliert nach und nach an Einfluß - und irgendwann sieht Giorgio seine Chance gekommen, seine Schwester zu rächen.

In den Gassen Coriglianos lauert Basile seinem Ziehvater auf, als der auf einem Motorroller durch den Ort fährt. "Zuerst schoß ich ihm in die Schulter. Als ich dann auf seinen Kopf zielte, sah ich die Todesangst in seinen Augen . . . Er, vor dem alle zitterten, hatte selber Angst. Ich genoß diesen Augenblick. Seine letzten Worte waren ,mamma mia', dann spritzte das Blut. De Cicco war tot, und ich empfand Genugtuung." Drei Monate später erschlug Basile, damals 33 Jahre alt, ein Clan-Mitglied mit Eisenstangen. "Er störte und mußte weg", rechtfertigt er den zweiten Mord.

Zu diesem Zeitpunkt ist er in der Hierarchie der 'Ndrangetha einer der bedeutendsten Kokain-Händler der Toskana. Wie viele Morde er bis zu seinem 40. Geburtstag begangen hat - das weiß Basile nicht mehr so genau. Die Zahl 30 ist nur eine Schätzung, die er nicht bestätigt. Vor Gericht hat er vier Morde und einen Mordplan, alles im Auftrag des Carelli-Clans, zugegeben. Das reichte der Anklage zunächst, um die Mafia-Bosse zu belangen.

Aber was hat ihn getrieben, auszupacken und mit der Polizei zusammenzuarbeiten? "Er hat das Schweigegelübde gebrochen, weil er sich von der Organisation betrogen fühlte", meint Buchautor Ulrich. "Sie hat nicht das gehalten, was sie ihm versprochen hat." Das, was die "Ehrenmänner" sagten, sei nur Gerede, sagt Basile ihm. "Sie locken die Jugend mit Macht, Geld und Frauen. Sie nutzen sie aus und bringen sie dann um wie Ameisen."

In seiner Zeit als Kokainhändler in Florenz hat Giorgio eine Frau aus der "besseren Gesellschaft" kennengelernt, Lucia. Die beiden verliebten sich, bekamen eine Tochter. Solange Giorgio für die Mafia arbeitete, hatte er keine Skrupel, als Familienvater am Morden und Dealen für die Mafia beteiligt zu sein. Erst als er in Bayern in Haft saß, wurde ihm klar, wie oft in der "ehrenwerten Gesellschaft" verraten wird, wie auch er verraten wurde. Er konnte sich nicht darauf verlassen, daß für seine Familie gesorgt wird, wenn er, womöglich lebenslang, hinter Gittern sitzt. Basile entschied sich für ein Leben mit der Familie - und wurde Kronzeuge, um im Zeugenschutzprogramm mit Frau und Kind zu leben. So, hofft er, wird er noch ein paar schöne Jahre in Freiheit haben - bis ihn irgendwann die Rache der 'Ndrangheta ereilt. Sein eigener Halbbruder, der Sohn de Ciccos, wurde bereits als Killer auf ihn angesetzt . . .

Andreas Ulrich: "Das Engelsgesicht - Die Geschichte eines Mafia-Killers aus Deutschland" (Spiegel-Buchverlag, 19,90 Euro)