UNO-Wettbewerb: Seit der Wende haben die 156 Bürger von Klietznick in Sachsen-Anhalt gemeinsam geackert und gebaut, gepflegt und gefegt. Jetzt wurde ihr Ort als einer der lebenswertesten der Welt ausgezeichnet

Klietznick. "Das ist sie?" Der Fotograf ist sprachlos. "Ja", meint Andreas Dertz amüsiert, "so ist das eben: Je höher die Wettbewerbe, um so piffiger die Urkunden." Piffig. Genau. Das Papier ist mickrig, die Schrift nullachtfünfzehn, aber die Klietznicker haben das häßliche Ding natürlich trotzdem gern, schließlich ist die Urkunde der Beweis dafür, daß sie das alles nicht nur geträumt haben. "Wir sollten", sagt Harald Bothe, "bei Gelegenheit mal einen vernünftigen Rahmen kaufen. Dann sieht sie gleich viel besser aus."

Vor vier Wochen haben sich die Herren Bothe und Dertz in Kanada noch ein Doppelzimmer geteilt. Aus Kostengründen. Wer von den Vereinten Nationen zur Endausscheidung um die "International Awards for Liveable Communities" eingeladen wird, ist nämlich automatisch Selbstzahler. Das mag für Abgesandte aus Münster oder Honolulu kein Problem sein, für ein Örtchen, das gerade mal einen Fliegenschiß auf der Landkarte darstellt, ist es eine gewaltige Hürde. So gewaltig, daß der Musiklehrer Dertz und der Elektromeister Bothe die Reise aus eigener Tasche bezahlt haben. Und die ihres Dolmetschers noch dazu. Immerhin sind die mit Gold dekorierten Münsteraner in der Nacht des deutschen Triumphes - drei Preisträger in drei Kategorien! - so nett gewesen, die Bronze-Gewinner aus Klietznick ausgiebig in die Bar einzuladen.

Aber das ist ja schon das Ende der Geschichte. Angefangen hat alles vor anderthalb Jahren, als jemand in der Kreisverwaltung auf die Idee kam, den Klietznickern mal die Wettbewerbsbedingungen des "LivCom Awards" zukommen zu lassen. Genauer gesagt dem Klietznicker Dorfverschönerungsverein, aber das ist ja dasselbe in Grün, denn schließlich sind von den 156 Klietznickern da 128 Mitglied. Na ja, haben sich die Klietznicker damals gesagt, Kreis- und Landessieger in Sachen "Unser Dorf soll schöner werden" sind wir gewesen, den Umweltpreis des Landes Sachsen-Anhalt haben wir auch schon gewonnen, dazu den Europäischen Dorferneuerungspreis - warum nicht mal was anderes? Also haben sie - wie 452 andere Kommunen weltweit auch - ihre Unterlagen eingereicht. Der Rest ist Geschichte. Klietznick schaffte es in die Endrunde, Dertz und Bothe packten ihre feinsten Anzüge ein und flogen nach Niagara in Kanada. Die mit Abstand kleinste Kommune war als erste dran, "es lief wie Butter, es war phantastisch"! Sagt Andreas Dertz. Harald Bothe sagt: "Es war eine schwergewichtige Präsentation."

Und vor allem war alles Marke Eigenbau. Wo die anderen professionelle Fotografen engagierten, knipsten die Klietznicker selbst. Wo die anderen Werbeagenturen texten ließen, brüteten die Klietznicker nach Feierabend über einem Laptop: "Klietznick ist ein kleines Dorf, sechzig Kilometer nordöstlich der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt Magdeburg in Ostdeutschland gelegen . . . "

Der "LivCom Award" ist ein Umweltpreis. Er berücksichtigt, wie eine Kommune mit ihrer Landschaft umgeht, wie umweltfreundlich sie sich organisiert, wie sie ihr historisches Erbe hegt, wie sie die Einwohner dabei einbezieht und wie sie für die Zukunft plant. Der Preis geht nicht an die schönsten Orte der Welt, sondern an die lebenswertesten.

Daß Klietznick nicht das schönste Dorf Deutschlands sein kann, sieht man auf den ersten Blick. Es ist nett. Gepflegt. Aufgeräumt. Aber "schön" im Sinne von, sagen wir mal Nieblum auf Föhr oder St. Peter im Schwarzwald? Du lieber Himmel! Dagegen ist Klietznick eine graue Maus. Jedenfalls an Wochentagen. Dann sind die Straßen leergefegt, weil die berufstätigen Klietznicker überall arbeiten - in Jerichow, in Genthin, sogar im fernen Prag -, nur nicht in Klietznick. Was Klietznick von den anderen grauen Mäusen unterscheidet, ist allein das, was man sozialen Willen seiner Einwohner nennen könnte. Der hat aus einem schmuddeligen Dorf, wie es sie zur Zeit der Wende in Ostdeutschland unzählige gab, ein Paradies gemacht.

Das begann 1991, als ein Wiedereinrichter aus dem Westen die Klietznicker auf die Idee brachte, sich um die Aufnahme ins Dorferneuerungsprogramm des Landes zu bewerben. Damals haben sie sich gesagt, daß es besser wäre, wenn alle an einem Strang zögen, also gründeten sie ihren "Dorfverschönerungsverein Klietznick e. V.". Seitdem haben die Klietznicker zwölf Millionen Euro investiert. Sie haben aus Buckelpisten Straßen gemacht und sich einen Flächennutzungsplan gegeben, der eine Zersiedelung verhindert. Sie haben erwirkt, daß das Areal zwischen Elbdeich und Ortsgrenze zum Landschaftsschutzgebiet erklärt wurde (Windräder verboten!), und sie haben aus ihrem verschlammten See ein sauberes Biotop gemacht. Sie haben einen 800 Quadratmeter großen Weinberg angelegt und 500 Eichen, 500 Ahornbäume und 500 Linden angepflanzt. Sie haben private Grundstücke gepachtet, um sie der Verwahrlosung zu entreißen, und eine Rodelbahn auf ihrem 48 Meter hohen Hausberg gebaut. Sie haben ihre teils noch romanische Kirche restauriert und ein Gemeinschaftshaus eingerichtet. Jetzt sind sie dabei, ihr Museum zu möblieren.

Das meiste Geld, das die Klietznicker seit 1992 bekamen - 1,5 Millionen Euro aus Brüssel, 1,5 Millionen aus Magdeburg -, haben sie für Sachleistungen aufgewendet. Die Arbeit haben sie selbst gemacht. An den Wochenenden. In ungezählten Arbeitseinsätzen, zu denen sich die Mitglieder des Dorfverschönerungsvereins bis heute freiwillig melden. Was hat Erich Kaminski einem Minister aus Magdeburg geantwortet, als der von ihm wissen wollte, warum er denn in seiner Freizeit das alte Backhaus wieder flottgemacht habe? "Wenn die Klietznicker so viel für mich machen", hat Kaminski erstaunt zurückgefragt, "dann kann ich auch was für die Klietznicker tun, oder?" So läuft das in Klietznick.

In Klietznick wird kein Geld für die Straßenreinigung verplempert, in Klietznick fegen die Bürger selbst. Sie sind auch nicht zu fein dafür, ihre Straßenblumen und Straßenbäume zu gießen. "Gemeinnutz geht vor Eigennutz", das ist hier quasi jedermanns Motto. Und deshalb ackert die Rentnertruppe dienstags am Weinberg, und sonntags, wenn Fußball gespielt wird, sorgen die Zuschauer für Kaffee und Kuchen. Wenn der See zugefroren ist, wird von Fußball auf Eishockey umgeschaltet, und wer dazu keine Lust hat, trifft am Wochenende immer Leute zum Kartenspielen im Gemeinschaftshaus. Es gibt einen Geschichtskreis, und einen Chor hat man auch. Den hat Andreas Dertz 1991 gegründet, und in dem darf mitsingen, wer will. Auf die Freude, meint er, komme es doch mehr an als auf die richtigen Töne.

Was noch fehlt, ist ein Laden. Aber das kann auch nicht mehr lange dauern. Harald Bothe, der nicht nur Vorsitzender des Dorfverschönerungsvereins ist, sondern auch ehrenamtlicher Bürgermeister von Jerichow, zu dem Klietznick gehört, hat schon ein Haus ins Auge gefaßt. Funktionieren soll das nach dem Modell der Ich-AG, "daß da alle einkaufen werden, versteht sich ja von selbst". Allerdings, sagt Bothe, müßten die Öffnungszeiten flexibel sein. "Meine Vorstellung wär', man könnte da einfach klingeln, wenn man was braucht."

Bothe ist 45, Dertz zwei Jahre jünger. Beide haben Familie. Beide stecken ihre gesamte Freizeit in das Projekt Klietznicker Dorfleben. Warum? "Weil es Spaß macht. Und weil wir der Beweis dafür sind, daß man mit Elan wirklich etwas bewegen kann." Zur Zeit träumen die Herren von einer umweltfreundlichen zentralen Hackschnitzelheizungsanlage für das gesamte Dorf. So etwas gebe es schon, sagen sie. Im österreichischen Obermarkersdorf. Und man ist bereit zu glauben, daß sie das auch noch auf die Beine stellen werden. Man glaubt ja auch, daß es Klietznick wirklich gibt. Man hat es ja mit eigenen Augen gesehen.