Kinderschänder: Nach acht Jahren wurden gestern der Belgier und seine Helfer verurteilt. Doch manches bleibt wohl für immer ungeklärt . . .

Arlon. Wenn Paul Marchal seinen Fantasien nachgegeben hat, dann hat er Marc Dutroux in seinem Gerichts-Glaskasten ertrinken lassen. Oder er hat sich vorgestellt, wie sich der Peiniger seiner Tochter sein eigenes Grab grub. "Ich warte, bis es tief genug ist. Dann stecke ich ihn hinein."

Es gibt keine Todesstrafe mehr in Belgien. Sie wurde 1996 abgeschafft. Drei Monate bevor die Leichen von An Marchal und Eefje Lambrecks in Charleroi gefunden wurden. Bevor man auch nur ahnte, was Dutroux und seine Helfer diesen beiden und vier anderen Mädchen angetan hatten.

Paul Marchal hat sich trotzdem nie dazu hinreißen lassen, die Wiedereinführung der Todesstrafe zu verlangen. Nicht in den schlimmsten Momenten, die ihm der Prozess zumutete. Etwa, als Dutroux im Plauderton berichtete, An habe ständig geweint. Oder als er sich zu der Bemerkung verstieg, die Eltern seiner Opfer seien "die Eltern, die ich gerne gehabt hätte". Zu der Zwei-Drittel-Mehrheit der Belgier, die angesichts des Dutroux-Falles nach der Todesstrafe riefen, hat Marchal nie gehört. Er hat nur eindringlich an die Geschworenen appelliert, "nicht zu milde" mit den Vergewaltigern und Mördern seiner Tochter umzugehen.

Seit gestern gibt es keinen Zweifel mehr, dass Marc Paul Alain Dutroux den Rest seines Lebens im Zuchthaus verbringen wird. Die zwölf Geschworenen von Arlon haben den 47-jährigen Elektriker aus Charleroi in allen Anklagepunkten für schuldig befunden: Schuldig der Bildung einer kriminellen Bande. Schuldig der Entführung, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung von Julie Lejeune (8), Melissa Russo (8), An Marchal (17), Eefje Lambrecks (19), Sabine Dardenne (12) und Laetitia Delhez (14). Schuldig des Mordes an An Marchal und Eefje Lambrecks. Schuldig auch des Mordes an einem Komplizen. Auf alle entsprechenden Fragen des Vorsitzenden Richters hat die Sprecherin der Geschworenen gestern mit fester Stimme geantwortet: "Die Antwort ist: Ja."

Auch Dutroux' Ex-Frau Michelle Martin (44) und sein Komplize Michel Lelièvre (33) wurden schuldig befunden: der Entführung, der Freiheitsberaubung und der Misshandlung der sechs Mädchen.

Anderthalb Stunden hat die Urteilsverkündung gedauert. Die Öffentlichkeit war nicht zugelasssen. Bei der Verlesung, berichtete einer der Beteiligten später, habe vollkommene Stille geherrscht. Dabei waren die inzwischen 20-jährige Sabine Dardenne und die 22-jährige Laetitia Delhez, die ihr Martyrium in Dutroux' Keller vor Gericht eindrucksvoll beschrieben hatten. Louisa Lejeune, deren Tochter in Dutroux' Keller monatelang gequält wurde, bevor man sie dort verhungern ließ, erklärte anschließend, das Urteil verschaffe ihr Genugtuung: Nun sei öffentlich anerkannt, was geschehen sei. Auch Paul Marchal zeigte sich zutiefst erleichtert: "Es ist sehr wichtig", sagte der Sonderschullehrer, "dass die Jury gesagt hat: ,Es war Dutroux, der Ihre Tochter ermordet hat.'"

Das Strafmaß wird das Gericht in den nächsten Tagen bekanntgeben. Damit geht dann der so genannte Jahrhundertprozess zu Ende, der das Land zwischen Maas und Schelde zeitweilig an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Wie hatte Premierminister Guy Verhofstadt auf dem Höhepunkt des Ermittlungsskandals gesagt? Belgien sei "krank bis auf die Knochen".

Belgiens politische Kaste ist bis heute diskreditiert. Vier von fünf Belgiern haben den Prozess, der erst skandalöse acht Jahre nach der Festnahme von Dutroux begann, für eine politische Farce gehalten. Die Eltern von Julie und Melissa sind ihm aus Protest ferngeblieben. Dutroux' Hauptverteidiger Xavier Magnee hat während des Verfahrens gesagt, dass er das Mandat hauptsächlich deshalb übernommen habe, um der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen: "Denn diese Geschichte geht über Dutroux hinaus." Magnee hat in seinem sechsstündigen Schlussplädoyer noch einmal die These von der Existenz eines Pädophilen-Netzwerks beschworen. Und auf den Umstand hingewiesen, dass an den 6000 Haaren, die man im Folterkeller in Charleroi sicherstellte, keine DNA-Analysen vorgenommen wurden.

Aber als Magnee den zwölf Geschworenen zurief: "Öffnen Sie die Augen für das Unklare, in der Hölle gibt es nicht nur den Teufel!", war der Begriff "Netzwerk" schon ein Tabu. Gedeckelt von einem über Nacht eingesetzten Untersuchungsrichter - sein Vorgänger war wegen angeblicher Befangenheit abgelöst worden -, der bereits 1998 die Sprachregelung eingeführt hatte, bei Dutroux handele es sich um ein "isoliertes Raubtier".

Dutroux selbst hat sich in seinem dreistündigen Schlusswort als "Marionette in einem Alibiprozess" bezeichnet und behauptet, die Mörder von An und Eefje - "glaubwürdige und ehrenhafte Bürger!" - seien noch auf freiem Fuß. Er hat den mitangeklagten Michel Nihoul beschuldigt, der Drahtzieher bei den Entführungen von Julie und Melissa, An und Eefje, Sabine und Laetitia gewesen zu sein: "Er hat die Kinder bei mir bestellt." "Ich", hat Dutroux dann mit großer Geste hinzugefügt, "bin kein Mörder. Aber ich trage Verantwortung dafür, dass Julie, Melissa, An und Eefje zu Tode kamen. Weil ich sie nicht ausreichend beschützt habe."

Nihoul (63), ein wegen Betruges vorbestrafter Brüsseler Geschäftsmann, hat im Prozess vehement abgestritten, in die Entführung von Laetitia Delhez verwickelt gewesen zu sein. "Ich weiß", erklärte er in einer seltsamen Mischung aus Selbstmitleid und Eitelkeit, "dass mich nur wenige sympathisch und viele sehr unsympathisch finden."

Am Ende waren nur sieben der zwölf Geschworenen von der Schuld Nihouls überzeugt, die Entscheidung lag deshalb bei den Berufsrichtern. Sie sagten: Im Zweifel für den Angeklagten. Dass Nihoul rund um den 9. August 1996 - an jenem Tag wurde Laetitia gekidnappt - ständig mit Dutroux telefoniert hatte, sei ein Indiz, aber kein Beweis für seine Schuld.

In Nihoul, der sich immer seiner hervorragenden Beziehungen zu ranghohen Persönlichkeiten gerühmt hat, sehen die Belgier bis heute Dutroux' Verbindungsmann zu einem Pädophilen-Netzwerk. Dass die Jury Michel Nihoul wegen Menschenhandels schuldig gesprochen hat, wies überdeutlich auf die Fragen hin, die der Prozess von Arlon nicht beantwortet hat.