Mit ihrem Mann Alexander schrieb sie „Die Unfähigkeit zu trauern“. Sie war eine gefragte Gesprächspartnerin, ebenso streitbar wie charmant. Bis zuletzt veröffentlichte sie Bücher und hielt Vorträge. Jetzt starb Margarete Mitscherlich.

Frankfurt/Main. Sie war die Grande Dame der Psychoanalyse, Vorkämpferin des Feminismus und bis zuletzt geistig junge Analytikerin der Gegenwart: Margarete Mitscherlich ist tot. Die Psychoanalytikerin und Autorin starb am Dienstag im Alter von 94 Jahren in Frankfurt. Noch im Herbst 2010 hatte die Jahrhundertfrau ein Buch mit dem Titel „Die Radikalität des Alters“ geschrieben. Berühmt wurde sie Ende der 1960er Jahre, als sie zusammen mit ihrem Mann Alexander das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ über die kollektiven Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft veröffentlichte. Seit 1982 war sie Witwe.

Im hohen Alter konnte Margarete Mitscherlich nicht mehr in ihr geliebtes Ferienhaus am Lago Maggiore reisen und benötigte einen Rollwagen, Verbitterung kannte sie aber nicht. „Wenn Sie anfangen, eine unfreundliche alte Hexe zu werden, dann wird das Leben schwierig“, sagte sie in einem „FAZ“-Interview. Sie bewahrte sich ihre Fröhlichkeit und Selbstironie, den Gehwagen nannte sie „eine peinliche Karre“. Mit ihrem Leben sei sie rückblickend „ganz zufrieden“, sagte Mitscherlich zu ihrem 90. Geburtstag.

Bis zuletzt hielt sie gelegentlich psychoanalytische Sitzungen ab, las zwei Zeitungen und den „Spiegel“. In einem Interview kurz vor ihrem Tod – mit dem „Philosophie Magazin“, Mai/Juni 2012 – wünschte sie sich Visionen. „Marx hatte wenigstens eine Vorstellung, eine Vision. Heute ist alles durchschnittlich“, beklagte sie. „Es ist in diesem neuen Kapitalismus keine neue Idee drin, scheint mir. Auch nicht auf europäischer Ebene. Wir brauchen dringend eine vereinende Vision, die Veränderungen zulassen würde, nicht nur eine Diskussion über den Euro.“ Materielle Sicherheit genüge nicht.

Als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin kam Margarete Nielsen 1917 in Gaasten (Dänemark) zur Welt. Ihr Abitur machte sie während der Nazi-Diktatur in Flensburg. Nach dem Medizin-Studium in München und Heidelberg arbeitete sie vorübergehend in der Schweiz, wo sie Alexander Mitscherlich kennenlernte. Da war der Psychoanalytiker (1908-1982) in zweiter Ehe verheiratet und schon vierfacher Vater. Den 1949 geborenen gemeinsamen Sohn Matthias vertraute sie zeitweise ihrer Mutter an. Das brachte ihr später Kritik ein. 1955 heiratete das Paar aber doch und begründete eine jahrzehntelange Liebes- und Arbeitsbeziehung.

Ihre 45 gemeinsamen Jahre mit Alexander seien nicht immer harmonisch gewesen, erzählte sie bei einer ihrer letzten Lesungen in Frankfurt. „Wir haben uns oft gestritten.“ Die Rivalität zwischen den Wissenschaftlern sei „nicht das Problem gewesen, die war lustvoll. Aber die Eifersucht war vorhanden. Er hat mir auch vorgeschlagen, mir einen anderen zu suchen. Aber wenn ich das dann tat, war der Teufel los.“

Gemeinsam arbeiteten sie in einer psychosomatischen Klinik in Heidelberg, später am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Zusammen schrieben sie „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967), einen intellektuellen Schlüsseltext der Studentenbewegung. Später wandte sich Margarete der Frauenbewegung zu. In ihrem bedeutendsten eigenen Buch, „Die friedfertige Frau“ (1985), legte sie dar, dass Frauen nicht von Natur aus weniger aggressiv sind, sondern ihr vermeintlich ausgleichendes Wesen nur erlernt haben.

Das Sigmund Freud-Institut würdigte sie am Mittwoch als bedeutende Persönlichkeit mit imponierender intellektueller Wachheit. Zusammen mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich stehe Margarete für den Aufbruch der Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland.

Psychoanalyse und Feminismus hatten für sie viel miteinander zu tun. „Freud hat als Erster anerkannt, dass Frauen sexuelle Wesen sind.“ Freuds Lehren haben ihrer Meinung nach auch die Gesellschaft verändert: „Erst durch seine Arbeit haben wir die Möglichkeit (...) die Motive, die unserem Verhalten sowie die unbewussten Konflikte, die unseren Symptomen zu Grunde liegen, hervorzuholen“ – und durch das analytische Gespräch zu verändern. Sie verehrte Freud als „Begründer der modernen Seelenkunde“, auf ihrem Sofa in ihrer Dachgeschosswohnung im Frankfurter Westend, in der sie schon mit ihrem Mann Alexander wohnte, saß: eine Sigmund-Freud-Plüschpuppe.

Auch mit 90 kommentierte sie noch süffisant Gegenwartsereignisse. Im „Spiegel“ las sie Öko-Gutmenschen die Leviten („Man empfindet Schuld und dann agiert man im Dienst der guten Sache mit lustfeindlicher Hysterie“), und in der „Brigitte“ erklärte sie Schönheits-Operationen für „neurotisch“.

Ihre Bilanz zum 90. Geburtstag: Aus dem faschistischen Deutschland ihrer Kindheit sei eine stabile Demokratie geworden, eine einstmals männerdominierte Gesellschaft habe immerhin eine Kanzlerin an die Spitze gewählt und die Grundbegriffe der Psychoanalyse kenne inzwischen jeder Taxifahrer. Über sich selbst sagte sie einmal mit einem Augenzwinkern: „Meine Thesen stimmen immer irgendwo auch, sind aber mit einer großen Lust an der Provokation verbunden.“