Russische Großmütter, Neon-Hintern, ein singender Satiriker - der Eurovision Song Contest in Baku verspricht gute Unterhaltung.

Baku/Hamburg. Die russische Großmutter, die Babuschka, sitzt gemeinhin den lieben langen Tag stumm in der Ecke, schmollt unterm Kopftuch und sorgt dafür, dass die ganze Familie stets ein schlechtes Gewissen hat. Die udmurtischen Babuschkas sind offenbar anders gestrickt.

Und so dürfte der Preis für die irrwitzigste Showeinlage beim Eurovision Song Contest (ESC, Finale 26. Mai) bereits vor den ersten Proben in der Crystal Hall in Baku (für deren Neubau angeblich Hunderte aserbaidschanische Familien zwangsumgesiedelt wurden) vergeben sein: an die Buranowskije Babuschki, die Großmütter aus Buranowo - einem von eintöniger, taigaähnlicher Landschaft umgebenen Dorf im europäischen Teil Russlands, westlich des Uralgebirges zwischen den Flüssen Kama und Wjatka. Das Sextett im Alter zwischen 43 und 76 Jahren, das in einheimischen Trachten seinen Feiersong "Party For Everybody!" zum Besten geben will, steht bei den britischen Buchmachern schon auf Platz drei. Kenner des ESC sagen für die stimmgewaltigen Udmurtinnen freilich ein Endergebnis in den unteren Top Ten voraus.

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Dorthin könnte es auch Engelbert verschlagen. Engelbert, who? Genau, der legendäre britische Schmalzbarde, vor 76 Jahren im indischen Madras als Arnold George Dorsey geboren, dessen romantischer Welthit "Release Me" auf keiner Unter-Hundert-Party fehlen darf. Engelbert, der im Laufe seiner Karriere stolze 68 Goldene und 35 Platin-Schallplatten sammeln konnte, soll in diesem Jahr als bislang ältester ESC-Solo-Interpret die ramponierte Grand-Prix-Ehre des Vereinigten Königreichs retten. In der Tat unterstreicht seine getragene Ballade "Love Will Set You Free" Engelberts ausdrucksstarke Stimme, es ist ein Song voller Gefühl, kommt (fast) ohne Schmalz aus und könnte die Massen mitreißen - und die Fachjuroren aus den 42 Teilnehmerländern ebenfalls. Andorra und Tschechien machen übrigens nicht mit.

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Auch der nimmermüde Ralph Siegel nimmt Udo Jürgens "Mit 66 Jahren ..." wörtlich und greift 30 Jahre nach seinem Grand-Prix-Triumph (Nicoles "Ein bisschen Frieden") zum 20. Mal nach der europäischen Schlagerkrone. Der Zwergstaat San Marino erbarmte sich des Schlager-Urgesteins und schickt Valentina Monetta nun mit dem "Social Network Song" (Refrain: "Oh oh uh oh oh!") ins Rennen, der ja eigentlich "Facebook-Song" heißen sollte, was der ESC-Jury jedoch "zu werblich" war. Die Titelzeile musste Siegel im letzten Moment ändern.

Andere Künstler wiederum verwandeln den ESC 2012 bewusst in einen Gesangswettbewerb aus "Absurdistan": Da wäre zum einen das österreichische Party Rap-Duo Trackshittaz zu nennen, das seinen Refrain "Woki mit Deim Popo" mit grellen Neon-Hinterteilen optisch unterstützt; da besingt der montenegrinische Satiriker Rambo Amadeus mit "Euro Neuro" den Fiskalpakt; die Holländerin Joan Franka ("You and me") schleicht im Squawlook wie Ntscho-tschi über die Bühne, und die hyperaktiven irischen Zwillinge Jedward ("Waterline"), die schon im vergangenen Jahr über die Bühne hüpften, verzichten nach wie vor auf eine Beruhigung durch Ritalin.

Allerdings gibt es in diesem Jahr auch richtig starke musikalische Beiträge: Die beatgewaltige Tanz- und Mitgrölhymne "Be My Guest" der Ukrainerin Gaitana etwa würde hervorragend zur Fußball-EM passen, deren Co-Gastgeberland Ukraine wegen des Umgangs mit Regierungskritikern mindestens so umstritten ist wie Aserbaidschan. Die Italienerin Nina Zilli wiederum haut einen von Jazz- und Soulklängen umwehten Pop-Knaller raus, dem man sich kaum entziehen kann: "L'Amore È Femmina (Out Of Love)" heißt ihr zweisprachiger Song.

Ob die gefühlvolle Ballade "Standing Still" des deutschen Teilnehmers Roman Lob, 21, ankommt, wird vom Umfeld abhängen. Das Lied, das der englische Ausnahmekünstler Jamie Cullum komponierte, hat unbestritten internationales Pop-Potenzial, so wie der Song "Euphoria" der Schwedin Loreen, die bei den englischen Buchmachern als Favoritin geführt wird - beim European Song Contest 2012, diesmal eben aus Absurdistan.