Für Eltern sind sie wegen der Mitgift zu teuer. Uno erklärt das Land zum weltweit gefährlichsten Ort für Mädchen

Neu-Delhi. Vorsichtig fährt die Ärztin der werdenden Mutter mit dem Scanner über den Bauch. Die Inderin ist in der achten Woche schwanger - noch ist das Geschlecht des Babys ungewiss, noch kann sich die Frau auf ihr Kind freuen. Doch die Gesundheit des Ungeborenen ist schon bald nicht mehr entscheidend: "Wenn ich dieser Mutter irgendwann sagen muss, dass das hierein Mädchen wird", sagt Frauenärztin Nisha Jaina leise und zeigt auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes, "verhänge ich ein Todesurteil über das Baby." Die Ärztin in einem Vorort von Neu-Delhi hält sich eisern an das Verbot der Geschlechtsbestimmung in Indien. Auch wenn die hoffnungsvollen Eltern ihr große Summen bieten, sie gibt das Geschlecht des Embryos niemals preis.

Damit allerdings steht sie recht allein da im bevölkerungsmäßig zweitgrößten Land der Erde. Töchter sind bei Indiens Eltern in spe nicht besonders willkommen. Zwar hat der Subkontinent eine weibliche Präsidentin. Und die Inder beten zahlreiche mächtige Göttinnen an, doch Mädchen zählen nicht viel. Sie sind einfach zu teuer. Töchter sind eine finanzielle Bürde für ihre Eltern, die ihnen eine teure Aussteuer stellen müssen, damit sie eines Tages einen Mann finden. Die Sitte hat schon viele Familien in den Ruin getrieben: "600 000 Rupien (umgerechnet 8575 Euro) brauche ich, um diese Tochter hier zu verheiraten", erklärt der Imker Shiv Kumar aus Delhi. "Noch eine Tochter und ich wäre bankrott." Und so bevorzugen die Inder Söhne.

Eine brutale, wenn auch illegale Familienpolitik sorgt dafür, dass weniger Mädchen auf die Welt kommen. 50 000 weibliche Föten werden jeden Monat abgetrieben. Dazu wird eine unbekannte Zahl neugeborener Mädchen direkt nach der Geburt ausgesetzt, vernachlässigt oder ermordet. Unerwünschte Töchter werden wie Abfall in den Müll geworfen. Und Mütter, die nur Mädchen gebären, werden bestraft oder verstoßen. Nach jüngsten Schätzungen gibt es inzwischen fast 40 Millionen mehr männliche als weibliche Inder. Und die Vereinten Nationen erklären Indien zum weltweit gefährlichsten Ort für Mädchen: Bis zum fünften Lebensjahr ist deren Sterblichkeitsrate 75 Prozent höher als die von Jungen.

Frauenrechtlerin Ruchira Gupta nennt dieses Phänomen "Genderzid" - Geschlechtermord. "Es ist die systematische Vernichtung der halben Bevölkerung Indiens", erklärt sie. Und es ist ein blühendes Geschäft: Obwohl Ultraschalluntersuchungen zur Geschlechtsbestimmung in Indien schon seit 1994 verboten sind, schießen Arztpraxen wie Pilze aus dem Boden, die diesen Service anbieten, und illegale Abtreibungen dazu. Alle wissen, dass hier gegen das Gesetz verstoßen wird; doch niemand spricht darüber, denn die Nachfrage ist groß. "Wie will man so ein Verbot auch wirklich kontrollieren?", sagt Gynäkologin Nisha Jaina. "Das Verbot der Mitgift durchzusetzen wäre viel wichtiger." Polizei und Richter unternehmen nicht viel gegen Ärzte, die ihr Geld mit illegalen Eingriffen verdienen. Sie glauben oft ebenfalls, dass Töchter eine Bürde für eine Familie darstellen.

In Indien geht es bei Abtreibungen "um die Frage pro oder kontra Frauen", sagt Gita Aravamudan, Autorin des Buches "Verschwindende Töchter". Söhne sind beliebt - und billiger. Wenn ein Stammhalter geboren wird, bringt er der Familie nichts als Freude und der Mutter Ehre. "Die Jungen bringen eben das Geld ins Haus", erklärt Gita Aravamudan. "Sie sind es schließlich, die irgendwann eine Frau heimbringen, die wiederum ihre Aussteuer mitbringt." Und obwohl die Regierung dem mit neuen Verboten und Gesetzen einen Riegel vorschieben will, werden die geforderten Summen der Aussteuer und die Kosten für rauschende Hochzeitsfeiern immer höher. Kann die Familie der Frau nicht zahlen, kommt es nicht selten zu grausamen Strafen, Frauenverbrennungen und Blutfehden. Die Tradition ist einfach zu stark, das Gesetz kommt dagegen nicht an.

Nicht nur die armen Menschen in Indien wollen keine Töchter. Gerade die Reichen lassen weibliche Ungeborene abtreiben - denn sie haben das nötige Geld dazu und für sie wäre die Aussteuer einer Tochter umso höher. "Unser Baby war ein Mädchen", erklärt ein anonymes Paar bei einer Umfrage, "und deshalb wollten wir es nicht haben. Wir haben 1200 Rupien bezahlt und es hinter uns gebracht. Was sollen wir mit noch einer Tochter?" Umgerechnet 17 Euro - und eine kleine Inderin weniger wird das Licht der Welt erblicken.

Und die Geschlechtskluft in Indien wächst weiter, Tag um Tag. Schon jetzt werden in einigen Regionen die Frauen knapp. "Bis 2025 wird es rund 20 Millionen Männer im heiratsfähigen Alter geben, die keine Partnerin finden", warnt Harpal Singh, der sich für den Schutz von Mädchen einsetzt.