War es Mord oder ein missglücktes Experiment? 50 Agenten des britischen Geheimdienstes müssen jetzt DNA abgeben

London. Mysteriöser und bizarrer hätte John le Carré ("Der Spion, der aus der Kälte kam") den Tod eines Geheimagenten kaum ersinnen können: Die Leiche - nackt, 1,72 Meter, 60 Kilogramm und ohne erkennbare Verletzungen - steckte mit angezogenen Knien und auf der Brust überkreuzten Armen in einer Sporttasche. Zwei Reißverschlüsse waren von außen mit einem Sicherheitsschloss verriegelt. Zwei passende Schlüssel lagen unter dem Toten. Die rote Tasche stand in der Badewanne einer Londoner Maisonette-Wohnung, die der britische Auslandsnachrichtendienst MI6 für Mitarbeiter angemietet hat. Tasche, Wanne, Fliesen und Kacheln wiesen weder Fingerabdrücke noch Scheuerspuren auf. Die einzigen Abdrücke in den übrigen Räumen stammten vom toten Bewohner, Gareth Williams, 31.

Wie kam der Entschlüsselungsexperte ums Leben? War es Mord? Wenn ja, durch wen? Einen gegnerischen Geheimdienst oder gar den eigenen? War es Selbstmord? Oder ein verhängnisvolles autoerotisches Experiment?

Seit fast zwei Jahren verfolgt Englands Öffentlichkeit fasziniert das Rätselraten der Ermittler von Scotland Yard und MI6. Eine gerichtliche Untersuchung der Todesumstände und -ursache ging jetzt ohne die erhoffte Klärung zu Ende. Selbst nach Anhörung von mehr als 40 Zeugen, darunter Sicherheitsdienstler, die hinter Wandschirmen und unter Decknamen aussagten, musste die Rechtsmedizinerin Fiona Wilcox einräumen: "Die meisten fundamentalen Fragen bleiben unbeantwortet." Wobei die nach einem Motiv erst gar nicht gestellt wurde. Allerdings, so Wilcox, lasse sich sagen, dass es sich "aller Wahrscheinlichkeit nach um eine widerrechtliche Tötung" handele. Ein perfekter Mord, scheint es.

Williams, der mit 16 Jahren ein Mathematikstudium begonnen hatte, trat von der Uni direkt ins GCHQ ein, die Lauschzentrale der britischen Nachrichtendienste in Cheltenham. 2009 wurde der "Codeknacker" auf drei Jahre ans MI6-Hauptquartier nach London überstellt, wo er sich für "operative Einsätze im Feld" qualifizierte. Die Einzelheiten seiner Tätigkeit liegen im Dunkeln, aber er soll mehrfach in Afghanistan gewesen sein. MI6-Chef Sir John Sawers lobte ihn als "hochbegabten Menschen, der bei uns wirklich wertvolle Arbeit im Dienst der Landessicherheit" geleistet hat. Das Betriebsklima bei MI6 - Bürokratie, Konkurrenzkämpfe und Alkohol - war jedoch nicht das Ding des introvertierten Einzelgängers aus Wales, der sich für Radsport, Bergwandern, Kunst und Modedesign interessierte. Er beantragte die Rückversetzung ans GCHQ. Am 1. September 2010 sollte es so weit sein.

Nach der Rückkehr von einer US-Reise am 11. August begann er zu packen. Vier Tage später wurde er zum letzten Mal gesehen. Zu einer MI6-Sitzung am 16. August, die er leiten sollte, erschien der Pünktlichkeitsfanatiker nicht. Da war er, glaubt die Polizei, schon mehrere Stunden tot. Dennoch wurde er erst eine Woche danach vermisst gemeldet, von seiner Schwester Ceri, 28. Einem Polizisten, der ein Loch in die Sporttasche ritzte, schlug starker Verwesungsgestank entgegen. Chefinspektorin Jackie Sebire, Leiterin der polizeilichen Ermittlungen, ist sicher, dass Williams von fremder Hand in die Tasche gepfercht und die Heizung in dem fensterlosen Bad mitten im August voll aufgedreht wurde, um die Aufklärung zu erschweren. So ließ sich nicht rekonstruieren, ob er erst in der Tasche starb oder vorher betäubt wurde oder durch eine Spritze den Tod fand.

Erste - womöglich vom Geheimdienst gesteuerte - Erkenntnisse schienen für Suizid oder ein missglücktes sexuelles Experiment zu sprechen: Ein Video der Haussuchung zeigt eine orangefarbene Langhaarperücke an einer Stuhllehne sowie Lippenstifte und andere Schminkutensilien. Auf dem Tisch lag neben MI6-Hauspass, Handys und SIM-Karten ein Zeitungsausriss vom 15. August über fünf Dinge, die Sterbende am meisten bedauern. In Schränken und Schachteln des Junggesellen fanden sich Frauenkleidung im Wert von 25 000 Euro nebst 26 bis zu 1200 Euro teure Damenschuhe und -stiefel von Designern wie Christian Louboutin, Stella McCartney, Christian Dior und Chloë. Williams hatte Transvestiten- Shows besucht und auf Fessel- und Fetisch-Webseiten gesurft. Seine Hauswirte aus Cheltenham berichteten, in einer Winternacht 2007 habe er sich, nur in Boxershorts, so fest mit den Handgelenken ans Bett gefesselt, dass er sie rufen musste, um sich befreien zu lassen.

Williams' Eltern und Schwester bestreiten jegliche Abartigkeit des Toten. 400 Versuche eines Gutachters, sich selbst in einer gleichen Tasche einzuschließen, scheiterten. Die Angehörigen sind überzeugt, dass er nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Ihr Anwalt Anthony O'Toole erklärte: "Der Eindruck der Familie ist, dass der oder die Täter einer auf die dunklen Künste des Geheimdienstes spezialisierten Organisation angehörte oder dass Beweismaterial nach dem Tod (von Williams) durch Fachleute dieser Künste beseitigt wurde." Crispin Black, namhafter Spionageanalyst und Ex-Regierungsberater in Sicherheitsfragen, sprach von einem "typischen Profimord".

Trotz der unbefriedigenden Leichenschau wird die Akte noch nicht geschlossen: 50 MI6-Mitarbeitern sollen demnächst DNA-Abstriche abgenommen werden, weil der Taschenverschluss winzige genetische Spuren von "mindestens zwei Fremden" aufwies.