Hamburg . Wegen eines fatalen Irrtums verlor David Albrecht (30) ein Auge und kämpft nun vergeblich um Wiedergutmachung. Was an dem Tag vor zwei Jahren geschah – eine Rekonstruktion.

Die Erinnerung kommt in versprengten Fetzen. Die Ladefläche und der Zündschlüssel. Die Scherze mit dem Kumpel. Die Landstraße und das Gedudel im Radio. Die Einfahrt im Dorf. Die Männer mit Sturmhauben und Waffen. Die Panik. „Dann wird es hell in meinem Kopf“, sagt David Albrecht. Der Moment, der alles änderte, ist wie vergraben. Der Aufprall von Blech auf Blech. Der Pistolenlauf. Der Knall.

Der 30-jährige Albrecht knetet seine Hände am Tisch seines Anwalts, weit auf dem Land in Lübz in Mecklenburg-Vorpommern. Wo sein rechtes Auge war, starrt jetzt Glas. Im Winter zieht es schmerzhaft Kälte an. Manchmal bleibt er mit einer Schulter plötzlich am Türrahmen hängen, weil er nicht mehr räumlich sehen kann. Der Kiefer geht noch immer nur so weit auf, dass die Worte vernuschelt herauszischen.

„Die Hamburger Polizei hat mein Leben komplett verpfuscht“, sagt Albrecht. Beamte des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) saßen einem fatalen Irrtum auf, kamen schwer bewaffnet, schossen auf ihn. Und hinterließen zwei Fragen, die Gerichte, Anwälte und Beteiligte noch exakt drei Jahre später spaltet.

Wer trägt die Verantwortung? Und was ist ein verlorenes Auge wert?

Er habe eigentlich nie Ärger gehabt, sagt David Albrecht, er war Lackierer, ein einfacher Typ. Er wartete auf eine Entschuldigung, aber fand sich nur selbst auf der Anklagebank wieder. Der Polizeisprecher Timo Zill sagte, der Vorfall sei nachbereitet worden. Gerichtsakten und Zeugenaussagen ergeben erstmals ein detailreiches Bild eines tragisch wie fragwürdig gescheiterten Einsatzes.

Der Zugriff

Am 12. Februar 2016 ist es kühl und bewölkt im Landkreis Ludwigslust-Parchim. Sein Kumpel Markus B. (Name geänd., d. Red.) hat David Albrecht gefragt, ob er ihm beim Transport von Dachblechen helfen kann. Sie leihen sich das Auto von Veronica S. (Name geänd.), ein schwarzer Dodge Ram, ein Pick-up-Truck, der große Hund von Markus B. nimmt auf der Rückbank Platz. Albrecht fährt, sie holen das Material aus einem Baumarkt und verladen es in Seelenruhe. „Man kommt ja nicht drauf, dass etwas nicht stimmt“, sagt David Albrecht.

Im Hamburger Polizeipräsidium löst die Bewegung des Autos Aufregung aus. Seit Tagen läuft die Fahndung nach Nico S., volltätowierte Rotlichtgröße, vorbestraft und per Haftbefehl wegen gefährlicher Körperverletzung gesucht. Der Dodge Ram ist auf seine Mutter zugelassen, aber wird Nico S. zugerechnet. Das Auto fährt Richtung Hamburg. Ein Team des MEK wird alarmiert. Steven Baack ist der Gruppenführer, ein moderner und aufstrebender Beamter, Spitzname „Fips“. Die Zielfahnder haben ein Bild von Nico S. dabei. Sie überholen den
Dodge, lassen sich wieder selbst überholen – und schauen dabei aus dem Auto schräg nach oben in die Kabine. Der Fahrer ist unbekannt. Aber der Beifahrer könnte Nico S. sein, „zu 60 bis 70 Prozent“. Weitere Bestätigung erbeten.

Die Spezialkräfte übernehmen auf Anweisung die direkte Verfolgung. Die Beamten rasen in fünf Zivilfahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn einzeln über die Autobahn. Der Wagen, der zuerst zu dem Dodge aufgeschlossen hat, fährt ein weiteres Manöver. Nach seiner Einschätzung ist der Beifahrer zu 90 Prozent die Zielperson. Baack ruft den leitenden Zielfahnder an: „Reicht dir das?“ Andernfalls wären weitere Manöver nötig. Ja, das reicht. Freigabe erteilt.

Nach dem Einsatz eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) der Polizei stehen Autos auf einer Straße in Lutheran (Mecklenburg-Vorpommern).
Nach dem Einsatz eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) der Polizei stehen Autos auf einer Straße in Lutheran (Mecklenburg-Vorpommern). © picture alliance / dpa

Markus B. hat Lust auf Sauerfleisch. Er bittet David Albrecht, eben bei der Fleischerei in Lutheran zu halten. Kaum 100 Meter daneben spielen Kinder in einer Tagesstätte. Die Nachbarn saugen gerade Staub oder halten Klönschnack im einzigen Geschäft ihres Dorfes.

Die Fahrzeuge des MEK kleben jetzt am Heck des Dodge. Mindestens eines von ihnen trägt Hamburger Kennzeichen – Baack schließt mit Stralsunder Nummernschild erst vor Lutheran zu seinen Kollegen auf. Wegen der Kennzeichen fürchtet Baack, dass der bewaffnete Verdächtige die Beamten erkennt, sobald er sich einmal umdreht. Querfeldein flüchten könnte. Oder gar eine Geisel nimmt. Es brauche jetzt einen zügigen Zugriff, teilt er über Funk mit.

Der Dodge wird langsamer. Der Fahrer des vorderen Autos des MEK sieht das als Gelegenheit. Als Albrecht einbiegt, schießen die Polizeiautos heran. Sie keilen den Dodge ein, ein Skoda stellt sich quer vor die Motorhabe. Die Beamten stürmen heraus. „Polizei, nicht bewegen!“ Aber da ist kein Blaulicht auf den Autos. Keine Wappen oder Schriftzüge an der Kleidung. Gutachter werden später Messungen durchführen und festhalten, dass Albrecht keine Chance hatte, die Beamten zu verstehen. Er sieht nur Grimassen, Gestalten in Schwarz. Hört ihre Rufe, aber nicht den Inhalt.

Der Beamte mit der Nummer 601 läuft zur Fahrertür. Zieht daran. Sie ist verschlossen. Dann schlägt er mit der Faust gegen die Scheibe. David Albrecht dreht den Kopf und sieht ihn kurz an. Als einziger Beamter trägt 601 eine kleine Aufschrift POLIZEI auf dem Kinnbereich seiner Sturmhaube, aber ob die Buchstaben überhaupt als solche erkennbar waren, wird ein Gericht später für unwahrscheinlich halten.

Instinktiv drückt David Albrecht auf das Gaspedal. Der Dodge bohrt sich in den Skoda vor ihm. Ein Beamter hechtet zur Seite, aber wird am Knie und einer Hand touchiert. Der Beamte 601 hebt seine Waffe und schießt zweimal in die Luft. Aufhören, soll das heißen. Albrecht denkt, die Unbekannten trachten ihm nach dem Leben. „Spinnen die alle?“, ruft ein Nachbar in seiner Wohnung, als die Schüsse knallen. Eine Frau läuft mit ihrer Tochter und deren Freund aus Angst quer von der Hauptstraße über einen angrenzenden Acker, immer weiter, bis hinein in ein fremdes Wohnzimmer. Sie denken an Terror.

Der Motor des schwarzen Pick-ups heult weiter auf, er schiebt den Skoda vorwärts. Der Beamte mit der Nummer 605 will verhindern, dass ein Kollege überfahren wird und der angebliche Gesuchte freibricht. Er steht einige Schritte hinter der Fahrertür. Zielt auf die Arme des Fahrers. Drückt ab, als sich David Albrecht gerade herumdreht.

Die Scheibe birst und die Kugel schlägt gerade unterhalb des Tränen­sackes ein. Dass die Kugel an seinem Wangenknochen absplittert und nicht weiter ins Gehirn eindringt, rettet David Albrecht das Leben. Baack war weit hinter dem Geschehen und konnte nicht eingreifen, nun fährt er ganz nach vorn. Er steigt aus und springt auf die Motorhaube des Dodge, die Pistole wegen des Hundes auf dem Rücksitz auf das Auto gerichtet. Baack ruft: „Fesselt ihn!“ Den Schuss habe er nicht einmal mitbekommen, sagt Baack später.

Einige Minuten später liegt Markus B. mit Handschellen am Boden. Sie fragen nach seinem Namen, kontrollieren seinen Ausweis. Er ist der Falsche. Dann nehmen sie ihm die Fesseln ab.

Baack drückt seinen Handschuh auf die blutende Wunde von David Albrecht, hält ihn am Leben, bis ein Hubschrauber eintrifft. Albrecht wird in einer Spezialklinik in Schwerin ausgeflogen. Aber der Druck auf dem Schädel ist durch die Verletzung zu hoch. David Albrecht ist in Schock, aber bei Bewusstsein, spricht am Telefon mit seiner Mutter. „Die müssen mein Auge herausnehmen“, sagt er. Dann: „Mama, du weißt, wie ich bin.“ Markus B. ist nicht bei seinem Kumpel. Beamte wundern sich noch, wie gelassen der Mann bleibt. Er geht in die Fleischerei, holt sich einen Kaffee und ein Kilo Fleisch. Zu David Albrecht hat er heute keinen Kontakt mehr.

Die Anklage

Sieben Tage liegt David Albrecht im künstlichen Koma, als er aufwacht, ist seine Familie da. Albrecht glaubt zuerst, dass er einen Autounfall hatte. Beim Blick in den Spiegel bricht er unter Tränen zusammen. Wenig später kommen die brennenden Phantomschmerzen. Sein Rechtsanwalt Benjamin Richert bereitet sofort eine Klage vor. „Dieser Einsatz war von übertriebenem Jagdeifer der Polizei getrieben“, sagt Richert.

Anwalt Benjamin Richert.
Anwalt Benjamin Richert. © C. Heinemann

Es stehen keine Blumen von der Stadt Hamburg im Krankenzimmer und kein Beamter besucht Albrecht persönlich, weder damals noch in den drei Jahren danach. Sofort wird von Amtswegen ein Verfahren gegen den Schützen eröffnet. „Einen solchen Schuss abgeben zu müssen, ist ungeheuer belastend gewesen“, sagt sein Verteidiger Otmar Kury.

Es müsse alles aufgearbeitet werden, so ein Polizeisprecher damals. Wie es aus Beamtenkreisen heißt, seien aber keine gravierenden Fehler erkennbar. „Nahezu jeder Normalbürger hätte die Hände gehoben. David Albrecht hat auf das Gaspedal getreten.“ Nico S. stellt sich der Polizei. Er dreht ein Video vor der JVA Billwerder, der Tonfall locker. Den Irrtum der Polizei findet er anscheinend eher amüsant.

David Albrecht ist noch dabei zu überleben. Achtmal am Tag Antibiotika. Augentropfen gegen Infektionen. Psychopharmaka. Als Lackierer werde er nie wieder arbeiten können. Das Versorgungsamt schreibt Albrecht: „Sie gehören zum Personenkreis der schwerbehinderten Menschen.“

Das ist die körperliche Seite. Mental kann jede Straße, jeder Skoda oder jeder Dodge, jedes Blaulicht einen „Flashback“ auslösen. Dann durchlebt Albrecht die Momente vorm Schuss erneut. Eine posttraumatische Belastungsstörung. Drei Wochen nach dem Vorfall geht ein Brief von der Staatsanwaltschaft ein. Gegen David Albrecht wird ermittelt – wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstandes gegen die Polizei.

Sechs Monate nach dem Vorfall haben die Staatsanwälte in Schwerin das Verfahren gegen den Beamten 605 eingestellt. Er habe in Nothilfe geschossen und rechtmäßig gehandelt. Gegen David Albrecht erheben sie Anklage. Ihm drohen fünf Jahre Haft.

Die Zeugenaussagen vor dem Amtsgericht Ludwigslust geraten zum Kostümball. Die Beamten tragen Perücken und falsche Bärte, um nicht erkennbar zu sein. Zwei der Kostümierten drücken ihr Bedauern aus. Steven Baack erscheint ohne Maskerade. Sein Gesicht ist ohnehin bekannt, weil er zum Leiter der Abteilung „Cold Cases“ für ungelöste Kriminalfälle berufen werden soll. Baack betont, dass die Zielfahndung federführend gewesen sei. Der Gruppenführer habe keine Reue gezeigt, kritisiert Albrecht später.

Steven Baack war der Gruppenführer bei dem Polizeieinsatz.
Steven Baack war der Gruppenführer bei dem Polizeieinsatz. © picture alliance / Georg Wendt/d

Baack beteuert über seinen Anwalt dagegen, er habe sich direkt an das Opfer gewandt: „Spezialeinheiten sollen Leben retten, auch das von Verdächtigen.“ Er bedauere, was geschehen ist. Gegenüber Vertrauten sagt Baack, dass er enttäuscht über das Verhalten seiner eigenen Kollegen gewesen sei. Anfängerfehler hätten sie gemacht. Er habe die Situation nicht retten können.

Zur Urteilsverkündung zieht David Albrecht ein weißes Hemd an und verfolgt, wie der Richter Siegmar Hackbarth den Einsatz des MEK „in Vorbereitung und Durchführung desolat und unprofessionell“ nennt. Er spricht David Albrecht frei. Und wünscht ihm viel Glück beim Kampf für eine Entschädigung.

David Albrecht fällt vor dem Gebäude seinem Vater in die Arme. Ob er jetzt glücklich sei? „Erleichtert“, sagt Al­brecht. „Aber nicht glücklich.“ Die ganze Zeit bis zum Freispruch nennt er „ein bizarrer Film, der nicht aufhören will“. Er hofft, dass er bald zu Ende geht.

Die Entschädigung?

Wie viel die Teile eines Menschen wert sind, wissen Juristen dank Tabellen mit Namen wie „Hacks/Wellner/Häcker“. Dort sind die Richtwerte für Schmerzensgeld notiert. Ein Hundebiss an der Hand: etwa 500 Euro. Ein „erheblicher Zahnverlust“: 12.000 bis 19.000 Euro. Grundlage sind ältere Gerichtsurteile.

In Amerika würde es in dem Fall von Albrecht um eine Millionensumme gehen, sagt sein Anwalt. „Zumindest müsste die Summe so hoch sein, dass ein gesunder Mensch in Versuchung käme, sich ein Auge entfernen zu lassen.“ Die Realität ist eine andere. 35.000 bis 110.000 Euro laut Tabelle.

Bereits im Herbst 2017 hat Richert die ausformulierte Klage eingereicht, die Hamburger Polizei einen eigenen Anwalt genommen. Die mündliche Verhandlung vor Gericht wird zunächst ausgesetzt, weil ein Vergleich zwischen beiden Parteien möglich scheint.

Die beiden Juristen treffen sich mehrfach. 90.000 Euro fordert die Seite von David Albrecht – das sind etwas mehr als zwei Jahresgehälter eines Lackierers. Nicht realistisch, entgegnet der Polizeianwalt. 35.000 Euro ist das letzte Angebot. 25.000 Euro davon fließen sofort. Mit dem Hinweis, dass dies kein Schuldeingeständnis sei.

David Albrecht nimmt den Vorschuss, auch wenn er seit Kurzem wieder einen Aushilfsjob hat. Er ist Vater geworden, versucht sein Kind großzuziehen. „Ich muss aufpassen, dass ich mental in der richtigen Bahn bleibe.“ Sein gesundes Auge sinkt auf den Tisch.

Der Gruppenführer Steven Baack ist nicht mehr Leiter der Soko „Cold Cases“, da der Verdacht auf „verbotene Ermittlungsmethoden“ besteht. Er sieht sich laut seinem Anwalt Gerhard Strate in beiden Fällen zu Unrecht an den Pranger gestellt – und bestreitet, dass die Polizei ihre Lehren gezogen habe. „Die Nachbereitung des Einsatzes wurde Herrn Baack untersagt. Das hält er nach wie vor für einen Fehler“, so Strate.

Der Polizeisprecher Timo Zill will keine Prognose in dem Rechtsstreit abgeben. Der Einsatz sei nach Abschluss des Strafverfahrens sehr wohl nachbereitet worden – Details könne er jedoch nicht preisgeben. „Solche Einsätze sind hochriskant. Die Beamten können sich gegenüber gefährlichen Verdächtigen nicht großflächig zu erkennen geben.“

Die Schwester von David Albrecht saß nur still mit am Tisch. Dann sagt sie plötzlich: „Es ist auch unser Ruf als Familie ruiniert worden.“ Ob sie sich ein Gespräch wünschen würden, mit dem Polizeipräsidenten, mit dem Schützen? „Nein“, sagt David Albrecht. „Nur ein wenig Ruhe finden.“

Der Richter hat die Vergleichsverhandlungen für gescheitert erklärt. Einen neuen Termin für die Verhandlung gibt es erst im Frühjahr.