Das Sportgespräch mit dem Rekorddauerläufer Christian Hottas aus Hamburg: “Andere Leute gehen in die Kneipe, wir rennen im Kreis“.

Hamburg. Auf den ersten Blick sieht die Praxis von Christian Hottas in Sasel aus wie jede andere. An den Wänden hängen anatomische Schaubilder, Broschüren liegen aus, es gibt eine Liege, ein Ergometer und allerlei Geräte. Nur die Medaillen im Flur lassen ahnen, dass hier kein gewöhnlicher Mediziner praktiziert. Hottas, 55, stieg am 3. August zum Leichtathletik-Weltrekordler auf. Seit er vor 25 Jahren mit dem Laufen begann, hat er 1767 Marathon- oder längere Läufe bestritten. Er löste damit den Hamburger Horst Preisler, 76, als Rekordhalter ab.

Hamburger Abendblatt: Herr Hottas, verraten Sie uns, was Sie am Wochenende vorhaben?

Christian Hottas: Für Freitag hatten wir leider nicht genügend Meldungen, um einen Marathon zu veranstalten. Am Sonnabend werde ich beim Öjendorf-Marathon starten, der regelmäßig vom 100-Marathon-Club veranstaltet wird, den ich 1999 selbst gegründet habe, dem ich aber inzwischen nicht mehr angehöre. Am Sonntag veranstalte ich selbst einen 43,5-Kilometer-Lauf auf der Billerhuder Insel in Rothenburgsort. Es dürfte Hamburgs einziger Kleingarten sein, der einen eigenen Marathon hat.

Gewöhnliche Menschen begnügen sich mit einem Spaziergang.

Hottas: Einer unserer Läufer sagte mal: Andere Leute gehen in die Kneipe und saufen sich die Hucke voll, und wir rennen wie die Beknackten im Kreis. Die Lebensqualität besteht für mich darin, einen Freundeskreis zu haben, der auch intensiv läuft. Wenn man diese Freundschaften pflegt, kommen die eindrucksvollen Marathon-Zahlen von selbst.

Sie sind inzwischen bei 1767 Marathons oder Ultramarathons angelangt. Wo soll das noch hinführen?

Hottas: Es heißt immer "Die verrückten Marathon-Sammler". Ich habe mir immer persönliche Herausforderungen gesucht, anfangs habe ich es auch als Wettkampfsport betrieben, eine Zeit lang habe ich dann gesammelt. Aber letztlich ist es eine Fleißaufgabe, nichts, worauf ich besonders stolz wäre. Der Krebstod meiner Partnerin Barbara Szlachetka 2005 hat mir bewusst gemacht, dass die Zahl der Marathons kein Ziel sein kann. Sie lief trotz ihrer Erkrankung Marathon, solange sie konnte. Jeder dieser Läufe war ein Tag Urlaub vom Krebs, von Chemotherapie, Todesangst und so weiter. Das war insofern ein Geschenk, als wir wussten, dass die Zahl extrem limitiert sein würde. Seither ist Laufen für mich vielmehr zu Lifestyle und Lebensqualität geworden.

Was machen Sie während eines Laufs?

Hottas: Wir klönschnacken eigentlich die ganze Zeit. Das sind mal Döntjes, mal geht es um die konkrete Laufplanung der nächsten Zeit. Kürzlich haben wir zum Beispiel das letzte Oktoberwochenende besprochen und uns für einen Nachtmarathon auf der dänischen Insel Mors ausgesucht. Das passt gut, weil wir auch Inseln sammeln. Der Veranstalter dort hat uns bereits eine Schlafmöglichkeit zugesagt.

Werden Sie als Weltrekordler nicht eingeladen?

Hottas:Das kommt vielleicht ein-, zweimal im Jahr vor. Ansonsten werden natürlich Startgebühren fällig, 2000 bis 2500 Euro im Jahr. Dadurch, dass ich rund 100 Läufe selbst veranstalte, fallen für mich meist keine Kosten an. Wann immer es im Umkreis von 100 Kilometern keine Veranstaltung gibt, gehen wir an die Teichwiesen in Volksdorf laufen. Am Mittwoch haben wir den Kate-Winslet-Marathon veranstaltet, weil es der Geburtstag der Schauspielerin war. Viele sind über unsere Veranstaltungen dort überhaupt zum Laufen gekommen.

Ist das, was Sie machen, noch gesund?

Hottas: Die Belastung beim Laufen kommt ja durch die Geschwindigkeit. Je mehr man läuft, umso geringer ist das Tempo. Ich brauche für einen Marathon fünf, manchmal sechs Stunden. Das ist eine ganz gesunde Geschichte. Je öfter ich laufe und je länger meine Strecken sind, umso wichtiger ist die Dosierung. Ich kann meinen Körper zu Leistungen zwingen, von denen ich weiß: Er kann sie. Aber ich muss mit dem Körper laufen und nicht gegen ihn, sonst streikt er. Kein Lauf ist es wert, die Gesundheit zu riskieren. Ich habe auch schon Starts abgesagt, weil meine Regenerationswerte nicht optimal waren.

Sagt Ihr Körper nie: Mir reicht's?

Hottas: Neulich hatte ich tatsächlich einmal eine Muskelverhärtung und musste den Lauf abbrechen. Aber das kommt ganz selten vor. Das viele Laufen brauche ich natürlich auch als Vorbereitung auf lange Läufe wie den Grand Union Canal Race über 240 Kilometer von Birmingham nach London oder auch die Sechstageläufe. Den ersten davon habe ich im vergangenen Jahr auf Bornholm gemacht. Das war ein fantastisches Erlebnis, wenngleich ich mir zwischenzeitlich einen Abszess am Fuß eingehandelt habe, den ich antibiotisch behandeln musste. Dadurch bin ich vom zweiten bis zum vierten Tag nicht auf die angestrebten 100 Kilometer gekommen. Da kam mir das medizinische Wissen entgegen. Nächstes Mal nehme ich das Antibiotikum gleich mit.

Verspüren Sie Lust an der Qual?

Hottas: Das nicht. Es geht bei solch langen Rennen eher um die Frage, wie man Probleme bewältigt: Wer überwindet als Erster den Schmerz, wer wird am besten mit dem Schlafmangel fertig, mit den nächtlichen Halluzinationen, den neuromuskulären Ausfallerscheinungen, kurz: Wer hat das beste Problemmanagement, um am Ende anzukommen. Man muss irgendwie erreichen, dass der Wille diktiert, wo es langgeht, und nicht der Körper. Ich habe für das Thames Ring Race über 250 Meilen (400 km) im Jahr 2009 96 Stunden gebraucht, davon habe ich 3:50 Stunden geschlafen. Das war eine Expedition in den Grenzbereich. Seither kann ich mir gut vorstellen, dass Schlafmangel eine Foltermethode ist.

Und am nächsten Morgen waren Sie wieder in Ihrer Praxis. Wie geht das?

Hottas: Ich habe fast den ganzen Rest der Reise geschlafen. Als ich in der Praxis war, ging es mir wieder ganz gut.

Kann man von einer Laufsucht sprechen?

Hottas: Es ist ein wichtiger Teil meines Lebens geworden, ein Baustein meines Wohlbefindens, aber ich könnte es auch wunderbar ohne das Laufen aushalten.

Würden Sie nicht das "Runner's High" vermissen, das Hochgefühl, von dem viele Dauerläufer schwärmen?

Hottas: Dafür reicht mein Tempo gar nicht aus. Um einen entsprechenden Endorphinspiegel aufzubauen, müssen Sie im Bereich der aerob-anaeroben Schwelle laufen. Da kommen wir normalerweise nie hin. Was für mich in den vergangenen Jahren den besonderen Reiz darstellt, sind die langen Zeitvorgabeläufe und Landschaftsstrecken zwischen 200 und 400 Kilometern.

Nehmen Sie die Landschaft überhaupt noch wahr?

Hottas: Natürlich. Beim Grand Union Canal Race habe ich allein in diesem Jahr knapp 400 Fotos gemacht. 200 davon habe ich als Album bei Facebook aufgespielt. Das ist eine Mischung aus Reisen und Sport, ein einmaliges Erlebnis. Bis vor Kurzem konnte man noch sagen: Es gibt weniger Menschen, die dieses Rennen beendet haben, als solche, die auf dem Mond waren. In den vergangenen beiden Jahren hatten wir allerdings eine ziemlich gute Finisherquote. Ich bin übrigens der einzige Nichtbrite, der sechsmal angekommen ist. Darauf bin ich schon stolz.

Haben Sie einen Traumlauf, den Sie unbedingt noch erleben möchten?

Hottas: Ich habe da eine Liste von Läufen, die ich abarbeite, die dennoch immer länger wird: ein Marathon auf Grönland oder den Färöer, auf den Åland-Inseln, diverse Strandmarathons. Für 2012 überlegen wir, an einigen Weinmarathons teilzunehmen. Gerade die Themenspiele machen unheimlich Spaß. Und dann gibt es ein paar spannende 100-Meilen-Läufe. Ein Zehntagelauf würde mich auch reizen. Das sind so Grenzen, an die man stoßen kann. Ein Traum ist der Last Annual Vol State Road Race - 500 Kilometer quer durch Tennessee. Man hat zehn Tage Zeit, es ist tierisch heiß, und es gibt keine Verpflegungspunkte. Man muss schauen, dass man sich in den Orten selbst versorgt. Das ist der Reiz schlechthin.