86 Medaillen, darunter 28 goldenen, sollten deutsche Athleten bei den Olympischen Spielen in London gewinnen. Das geht aus den Zahlen hervor, die zwischen den Fachverbänden und dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) vereinbart worden waren

London. Die Debatte über das Fördersystem im deutschen Sport ist eröffnet: Das Zählen von Medaillen als wichtige Grundlage für das Verteilen von Steuer-Millionen scheint spätestens nach der vor Gericht erstrittenen Veröffentlichung der Zahlen aus der Zielvereinbarung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) mit seinen Spitzenverbänden und dem Bundesinnenministerium (BMI) überholt.

28 Olympiasiege und insgesamt 86 Medaillen bei den Sommerspielen von London hatte der DOSB in den Hinterzimmern seinen Verbänden abverlangt. Das geht aus vom BMI erst nach einer Klage zweier Journalisten der „WAZ“-Gruppe veröffentlichtem Papier hervor. Die Sportler waren von den Vorgaben hoffnungslos überfordert – nach den Entscheidungen vom Freitag waren es 42 Medaillen, davon zehn goldene.

Es geht für den DOSB ans Eingemachte, bisher konnte er als Alleinherrscher entscheiden, welche Sportarten wie gefördert werden. Der DOSB wird nun erklären müssen, wie er künftig den Leistungssport organisieren möchte. Er wird unter öffentliche Kontrolle geraten, möglicherweise verliert er so seine Machtposition.

Als erster Präsident eines Spitzenverbandes ging der Chef des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) in die Offensive. Thomas Weikert fordert in einer Pressemitteilung „eine grundlegende Diskussion über die Förderung des deutschen Sports“. Er halte eine solche Debatte für „notwendig“. Der DTTB erfüllte als bisher einziger Verband seine Vorgabe für die Sommerspiele von einer Plakette mit zwei Bronzemedaillen sogar über.

+++ Historische Nullnummer – Schwimmer ohne Medaille +++

DOSB-Generaldirektor Michael Vesper verteidigte vehement die derzeitige Verfahrensweise. „Das waren keine Vorgaben, sondern Vereinbarungen, die wir vor vier Jahren getroffen haben. Wir wollten damit unsere Ziele definieren. Es ist albern anzunehmen, dass wir mit 28 Goldmedaillen gerechnet haben“, betonte Vesper Freitagnacht in der ARD nochmals.

„Dies als konkrete Medaillenplanwirtschaft zu interpretieren, wäre naiv und ginge an der Sachlage vorbei“, sagte er bereits am Nachmittag: „Das System der Zielvereinbarung hat das alte System von Belohnung und Bestrafung abgelöst und ermöglicht es den Verbänden, den vierjährigen Vorbereitungsprozess auf die Olympischen Spiele gemeinsam mit dem DOSB zielgerichtet anzugehen und in Potenziale zu investieren.“

Die Aussage von Vesper geht in einem wichtigen Punkt an der Realität vorbei. Denn das aktuelle Fördersystem basiert eben genau auf Belohnung und Bestrafung – und das obendrein nicht nur nach harten sondern auch nach „schwammigen“ Kriterien. Vesper selbst räumt zudem ein, dass sich „erfahrungsgemäß nur ein Teil der Jahre zuvor identifizierten Medaillenchancen realisieren lässt“.

Das treibt dann eben seltsame Blüten – eine Medaille sollte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) holen. Und war in London gar nicht vertreten. Bei den Seglern stand bei Unterschrift der Vereinbarung noch gar nicht fest, in welchen Disziplinen gesegelt wird.

„Man kann über einen so langen Zeitraum das nicht taxieren. Wenn es dann Probleme gibt, liegt man schnell hinter den Zielvereinbarungen zurück“, sagte Leistungssportdirektor Lutz Buschkow vom Deutschen Schwimmverband (DSV). Die Schwimmer lagen völlig daneben, acht Medaillen (2 Gold) sollten es werden. Die Beckenschwimmer reisten ohne Medaille ab, Thomas Lurz holte im Freiwasser wenigstens Silber. Die Schützen sollten fünf Medaillen holen – trafen aber die Null.

Manchmal gab es knallharte Gespräche, manchmal ging es offenbar ein wenig lockerer zu. Tischtennis-Sportdirektor Dirk Schimmelpfenning: „Von einer Vorgabe kann man nicht direkt reden. Da wir in Peking schon eine Medaille im Teamwettbewerb gewonnen hatten, haben wir uns dort auch für London Hoffnungen gemacht. So ist dann letztlich die Zielvorgabe entstanden.“

Peter Frese, Präsident des Deutschen Judo-Bundes (DJB) meinte: „Entscheidend ist, dass der Fachverband die Sachen realistisch einschätzt. Ganz wichtig, dass man nicht träumt.“

Die Vorgabe aus der Zielvereinbarung erwies sich freilich insgesamt als Traum. Nur einmal seit der Wiedervereinigung, nämlich 1992, hat ein deutsches Olympia-Team eine ähnliche Bilanz erreicht. Damals in Barcelona holte die Mannschaft, die noch stark von dem Sportsystem der DDR profitierte, 82 Medaillen, davon waren 33 golden.

Vor den Spielen in London hatte DOSB-Präsident Thomas Bach für den „härtesten Wettbewerb der olympischen Geschichte“ das Ergebnis von vor vier Jahren als Maßstab bezeichnet. Mit 16 Gold-, 10 Silber- und 15 Bronzemedaillen war die deutsche Mannschaft vor vier Jahren auf Platz fünf der Nationenwertung gelandet. Die Gesamtzahl von Peking ist mit nun 42 Medaillen um eine Plakette übertroffen.

Helmut Digel, Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), fordert eine Überprüfung der Strukturen im Leistungssport. Man müsse sich den Debatten selbstkritisch stellen. „Man muss doch in Ruhe nach den Spielen analysieren, woran es gelegen hat, dass Deutschland in manchen Sportarten im weltweiten Wettbewerb nicht mehr mithalten kann“, sagte Digel.

Laut Digel, der Zielvereinbarungen grundsätzlich für richtig hält, gibt es „sehr viel komplexere Bewertungsschlüssel als Medaillen.“ Beispielsweise spiele das Budget eine große Rolle. Den Briten würde in der Leichtathletik beispielsweise dreimal so viel an finanziellen Mitteln zur Verfügung stehen wie dem DLV. Zudem müsse man berücksichtigen, dass in manchen Sportarten nur zehn Nationen um Medaillen kämpfen, oder ob man mit 30 Leuten zehn Medaillen geholt habe oder mit einem sehr viel größeren Aufgebot.

Den Stein ins Rollen gebracht hatten zwei Journalisten. Das Berliner Verwaltungsgericht gab ihrer Klage statt und ermöglichte die Veröffentlichung der Zielvorgaben. Doch erst als die gesetzte Frist unter Androhung von 10.000 Euro Zwangsgeld am Freitag um 15 Uhr auslief, gab das BMI nach .

Der für den Sport zuständige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) erklärte: „Es ist meine Aufgabe, mich für die schutzwürdigen Belange des Sports einzusetzen. Dazu gehörte, im Rahmen des presserechtlichen Auskunftsverfahrens die erbetenen Auskünfte nicht zu erteilen.“ Das BMI fördert den deutschen Sport jährlich mit insgesamt 133 Millionen Euro.