Der neue HSV-Trainer Christian Gaudin über die besonderen Herausforderungen beim Handball-Sport-Verein Hamburg

Sölden. Es sind Tage wie diese in Sölden, die Leistungssportler in manchen Momenten bereuen lassen, keinen Bürojob erlernt zu haben. Die HSV-Handballer bereiten sich wieder in den Ötztaler Alpen auf die neue Bundesligasaison vor, und nur der Komfort ihres Fünf-Sterne-Quartiers Das Central tröstet sie ein wenig, dass sie derzeit morgens und nachmittags bis zum letzten Schweißtropfen gefordert werden.

Christian Gaudin, 47, der neue HSV-Trainer, drückt aufs Tempo. Er hat wenig Zeit. Am 24. August in Gummersbach muss das Team topfit sein, was nach dem verspäteten Trainingsstart am 21. Juli eine von zahlreichen Herausforderungen ist. Immer noch ist der Kader nicht komplett, zudem wechselte der schwedische Kreisläufer Andreas Nilsson, 24, am Dienstag zum ungarischen Meister Veszprém. Die Ablösesumme soll 200.000 Euro betragen.

In Sölden testet Gaudin nun zwei Rückraumspieler, Mario Galijot, 26, einen vertragslosen Kroaten, und den Ukrainer Alexander Semikow, 27, von Motor Saporischschja. Die ersten Eindrücke haben beim Trainer keine Euphorie ausgelöst. Spätestens in der nächsten Woche soll nach der Rückkehr nach Hamburg ein dritter Kandidat dazustoßen. „Wir brauchen noch zwei Verstärkungen“, sagt der Franzose, „und die sind momentan auf dem Markt schwer zu bekommen.“

Hamburger Abendblatt: Monsieur Gaudin, in der Vorbereitung, heißt es, kann man den Charakter der Spieler am besten kennenlernen. Wie ist Ihr erster Eindruck von Ihrer neuen Mannschaft?

Christian Gaudin: Hervorragend! Die Stimmung ist gut. Man sieht es allen an, dass sie bereit sind, sehr hart zu arbeiten. Im Urlaub haben alle ihr Fitnessprogramm seriös absolviert. Dieses Team hat einen sehr guten Charakter.

Dass ein neuer Trainer auch einen starken Motivationsschub auslöst ist nicht ungewöhnlich.

Gaudin: Natürlich schleifen sich in Mannschaften, wenn sie über Jahre in ähnlichen personellen Konstellationen zusammenspielen, gewisse Verhaltensweisen ein. Die meisten Abläufe sind bekannt, vieles gerät zur Routine, was die Aufmerksamkeit tendenziell senkt. Insofern sind Veränderungen immer mal wieder notwendig und im Sport etwas ganz Normales.

Das Team, das Sie jetzt trainieren, haben Sie nicht zusammengestellt. Wie stark erschwert das Ihren Job?

Gaudin: Die Basis, die ich vorgefunden haben, ist ausgezeichnet. Nur im Rückraum sind wir nach den Abgängen von Domagoj Duvnjak, Joan Cañellas, Zarko Markovic und Blazenko Lackovic unterbesetzt. Vier Profis dieser Qualität sind kaum zu kompensieren, schon gar nicht kurzfristig. Wir brauchen ganz dringend noch zwei Spieler, die uns im Angriff und in der Abwehr sofort weiterhelfen. Anfang August, kurz vor dem Ligastart, sind solche Leute normalerweise nicht mehr auf dem Markt. Aber ich telefoniere in jeder freien Minute.

Wären die Talente, die der HSV verpflichtet oder aus seiner U23-Mannschaft in den Bundesligakader hochgezogen hat, eine Alternative?

Gaudin: Nicht sofort. Natürlich wird es eine meiner wichtigsten Aufgaben sein, sie mittelfristig in die Mannschaft einzubauen. Ich sehe bei allen unseren Talenten Potenzial, und sie werden ihre Chancen erhalten. Das muss jedoch geduldig vorbereitet werden und die Gesamtsituation möglichst stabil sein. Das ist sie noch nicht.

Welche Sorgen haben Sie da?

Gaudin: Für viele Spieler waren die vergangenen Monate eine starke psychische Belastung, als der Verein um die Bundesligalizenz kämpfte. Da ging es um Existenzen, um das Wohl der Familien, der Kinder. Das steckt noch in vielen Köpfen. Man sieht es im täglich Umgang. Das Lächeln ist zurück, weil alle froh sind, dass es beim HSV weitergeht, ich möchte aber, dass alle auch wieder herzhaft lachen können.

Ihnen scheint das Lachen noch nicht vergangen zu sein.

Gaudin: Warum sollte es? Der HSV ist nach wie vor ein großer Verein, bei dem es zuletzt ein paar Turbulenzen gab. Jetzt beseitigen wir die Sturmschäden, Schritt für Schritt. Und wir kommen jeden Tag ein Stück voran.

Wird Ihnen da nicht manchmal bange, in welch kurzer Zeit Sie alle Probleme zu lösen haben? Selbst Spielzüge können Sie momentan nur bedingt einstudieren.

Gaudin: Ich weiß, dass in diesem Augenblick nicht jeder Trainer diesen Job in Hamburg angetreten hätte. Ich kenne da ein paar Namen, die davor zurückschreckt haben, aber ich habe keine Angst. Warum auch? Beim HSV gibt es weiter hervorragende Strukturen.

Woran denken Sie dabei vor allem?

Gaudin: Wir haben eine eigene Trainingshalle, wir können am Olympiastützpunkt in Dulsberg Kraft und Stabilität an hochmodernen Geräten trainieren, die es in keinem Fitnesscenter gibt. Der HSV hat eine große Fangemeinde, mit der O2 World eine herausragende Spielstätte, mit Andreas Rudolph (Hauptgeldgeber des HSV, die Red.) und Matthias Rudolph (Mehrheitsgesellschafter der Spielbetriebs GmbH & Co. KG, die Red.) zwei Unterstützer, die ihresgleichen suchen, weil sie beide großen Handballverstand haben und ihr Herz an dem Verein hängt. Wir haben Mitarbeiter auf der Geschäftsstelle, die sich Tag und Nacht für den HSV Handball engagieren, morgens um acht Uhr da sind, abends nicht vor neun Uhr gehen und eine Aufbruchstimmung verbreiten, die uns alle mitreißt. Dieser Verein lebt. Das sind alles Voraussetzungen, die nur wenige Handballclubs auf der Welt haben. Deshalb freue ich mich, beim HSV Trainer sein zu dürfen.

Was erwartet der Verein von Ihnen?

Gaudin: Erfolg!

Sofort?

Gaudin: Natürlich wissen alle im Club um die Situation, um die Zusammensetzung der Mannschaft. Wir müssen nicht deutscher Meister werden, wir wollen mit diesem Team eine Perspektive für die nächsten Jahre entwickeln, aber wir sollten auch nicht gleich die ersten vier Spiele verlieren, wenn ich meinen Job länger behalten will (lacht). Das Auftaktprogramm in Gummersbach, zu Hause gegen Hannover und Meister Kiel und dann bei Vizemeister Rhein-Neckar Löwen hat es jedoch in sich.

Sie sind ein Trainer, der hart und akribisch arbeitet, jede Übungseinheit klar strukturiert – und Sie sind jemand, der Disziplin verlangt. Auf der Rückfahrt vom verlorenen Testspiel in Bad Schwartau haben Sie vergangenen Freitagabend das obligatorische Entspannungsbier gestrichen, und auch in Sölden kommen nur Mineralwasser und Säfte auf den Tisch.

Gaudin: Wenn wir gewinnen, können wir gern mal ein Bier trinken, ich bin keine Spaßbremse. Aber nach einer Niederlage? Und hier in Sölden gehen alle Spieler an ihre körperlichen Grenzen, da schadet jeder Tropfen Alkohol der Regeneration. Worüber reden wir? Disziplin bleibt in jedem Mannschaftssport die Voraussetzung für den Erfolg. Beim HSV gibt es in dieser Hinsicht keinerlei Probleme.

Als Franzose wissen Sie, wie Handball geht. Die französische Nationalteam ist seit mehr als 20 Jahren Weltspitze. Was können Sie den Deutschen beibringen?

Gaudin: Die Bundesliga ist die beste Liga der Welt, da können alle anderen nur von lernen. Der Erfolg des französischen Handballs beruht auf einem ausgezeichneten Scoutingsystem und der anschließenden Förderung in Sportschulen. Die Deutschen haben genug Talente, im Juniorenbereich sind ihre Teams international durchweg sehr erfolgreich. Was Probleme zu bereiten scheint, ist der Übergang zu den Senioren. In Frankreich spielen schon 17- und 18-Jährige in der Ersten Liga. Das ist bei der Leistungsstärke der Bundesligaclubs nicht so einfach möglich.