Martin Schwalb, Trainer der HSV-Handballer, erinnert sich an den Gewinn der deutschen Meisterschaft 2011

Hamburg . Augenblicke, die eine Karriere prägen. Orte, die man ein Leben lang nicht vergisst. Das Abendblatt bat 15 Sportler, an Hamburger Stätten großer Momente zurückzukehren und sich dort an ihre Vergangenheit zu erinnern. Die Serienteile lesen Sie bis Anfang September regelmäßig an dieser Stelle.

Martin Schwalb mag den Begriff „Wohnzimmer“ nicht. Den verbinde er mit Gemütlichkeit, Behaglichkeit. Beides habe er zu Hause. Dennoch sei es für ihn jedes Mal ein „ganz besonderer, ein inspirierender Moment“, wenn er die Halle am Volkspark betrete, die seit 2010 O2 World heißt. „Für mich ist das die schönste Arena in Deutschland, mit einer wunderbar dichten, stimmungsvollen Atmosphäre.“ Er genieße es einfach, dort unten am Spielfeldrand zu stehen und dann die Ränge rauf zu den Zuschauern aufzublicken. „Manchmal“, erzählt der inzwischen 50-Jährige, „bekomme ich immer noch eine Gänsehaut.“

Leidenschaft. Ende Oktober 2005 übernimmt er den Handball Sport Verein (HSV) Hamburg. Der ist zehn Monate zuvor der Insolvenz entkommen, und der Retter, der Ahrensburger Medizindienstleister Andreas Rudolph, heute 58, hat mit dem Verein jetzt einiges vor. Meisterschaft statt Mittelfeld, der Auftrag an Schwalb hätte vor acht Jahren nicht präziser ausfallen können. Schwalb, er kommt mitten in der Saison aus Wetzlar, hat diese Aufgabe gereizt, und im Rückblick erinnert er sich vor allem an die vielen schönen Erlebnisse, die den jahrelangen Zweikampf mit dem THW Kiel um den Titel prägen. Erinnerungen verklären gewöhnlich, und vielen anderen bleibt aus dieser Zeit eher im Gedächtnis, dass Schwalb irgendwann sein Lächeln verliert. Vom großen Druck, der auf ihn lastete, will er jedoch nichts wissen. „Es war ein großes Ziel, das wir alle gemeinsam in Angriff genommen hatten. Und damit du am Ende als Sieger dastehst, ist ein Höchstmaß an Konzentration und Ernsthaftigkeit vonnöten.“

Am 11. Mai 2011 sollte es endlich so weit sein. Die Hamburger Handballer haben nach einer Auftaktniederlage in Göppingen sich mit einer unwiderstehlichen Siegesserie an die Spitze der Bundesliga geworfen. Der Tag der Krönung ist gekommen. 13.296 Zuschauer, erwartungs- und sangesfroh, füllen die O2 World bis auf den letzten Platz. Sie sollen nicht enttäuscht werden. Der HSV dominiert den VfL Gummersbach von Beginn an, liegt zur Halbzeit 20:14 vorn. „Und auch zu Beginn der zweiten Hälfte überzeugt der HSV Handball auf ganzer Linie und zeigt den Zuschauern Tempohandball. In der Abwehr werden durch ständigen Druck auf die VfL-Offensive schnell Fehler der Gummersbacher provoziert und nach dem Ballgewinn wird ebenso schnell umgeschaltet“, schreibt später der Mediendienst des Vereins.

Präsident Andreas Rudolph wehrt alle voreiligen Glückwünsche ab

Welche Anspannung sich in den Wochen und Monaten zuvor bei den Club-Verantwortlichen aufgebaut hat, mag eine Szene vier Minuten vor Schluss der Partie am Rande des Spielfeldes veranschaulichen. Der HSV führt 33:27, und die Zuschauer auf den Tribünen haben längst begonnen, den Gewinn der Meisterschaft ausgelassen zu feiern. In diesem Moment stürzt der damalige Vizepräsident Dierk Schmäschke auf Andreas Rudolph zu, der wie immer auf Höhe des eigenen Tores hinter der Bande steht, umarmt ihn und schreit: „Andreas, Andreas, wir haben es geschafft!“ Rudolph wimmelt den ungebetenen Gratulanten barsch ab: „Wir haben noch nichts geschafft. Das Spiel läuft doch noch.“ Als die Begegnung kurz danach zu Ende ist, der HSV 35:30 gewonnen hat, fallen sich beide Männer dann doch noch um den Hals, wischen sich mit den Fingern durch die Augen und scheinen dem Augenblick zurufen zu wollen, „verweile doch, du bist so schön!“

Die erste deutsche Meisterschaft läutet keine neue Handball-Ära ein

Martin Schwalb hat zu diesem Zeitpunkt das Gesetz des Handels nicht mehr in der Hand. Die Mannschaft stürmt auf ihn zu, packt ihn an Füßen, Beinen und Rücken, wirft ihn immer wieder in die Höhe. „Das sind für jeden von uns unvergessliche Momente“, sagt Schwalb, und wenn er heute aus der Kabine komme und die schwere schwarze Metalltür zur Halle öffne, seien die Bilder von damals immer noch präsent. „Eine bessere Motivation gibt es für mich nicht“, sagt er – und lächelt.

Der Verein feiert den bis dahin größten Erfolg seiner Geschichte ausgiebig. Wie immer in diesen Jahren findet die große Sause auf Rudolphs Finca auf Mallorca statt. Die neue HandballÄra, die der HSV mit diesem Triumph einläuten will, die Wachablösung des Rivalen THW Kiel, fällt jedoch aus.

Interne Probleme, falsche Personalentscheidungen führen dazu, dass sich der Verein in den nächsten beiden Spielzeiten oft mehr mit sich selbst als mit den Gegnern beschäftigt. Schwalb wechselt nach der Meistersaison auf den Posten des Geschäftsführers, der neue Trainer Per Carlén erweist sich als Fehlgriff. Nach einem halben Jahr muss er gehen. Im März 2012 übernimmt der Meistercoach als neuer alter Cheftrainer wieder das Kommando. Und am 2. Juni dieses Jahres folgt sogar das Happy End. Schwalb führt den HSV in Köln zum Champions-League-Sieg.