Die HSV-Handballer erhalten von den Füchsen Berlin eine bittere 27:37-Lehrstunde

Hamburg. Als Paul Drux von Dagur Sigurdsson aufs Feld geschickt wurde, wusste jeder der 8639 Zuschauer in der Max-Schmeling-Halle, dass die Partie gelaufen war. Offiziell waren noch knapp zehn Minuten zu spielen, eine Ewigkeit im Handball. Aber schon jetzt war klar, dass die Füchse Berlin dieses Spiel gegen den HSV Hamburg nicht mehr würden verlieren können. Warum also nicht dem 17-jährigen Rückraumtalent sein Bundesliga-Debüt gönnen? Und warum nicht auch gleich Colja Löffler und Johannes Sellin und Fabian Wiede gleich mit einwechseln, die anderen Jungprofis in Sigurdssons Kader?

Selten genug hat der isländische Trainer Gelegenheit dazu - erst recht nicht in einem Spitzenspiel. Aber ein solches war das Verfolgerduell zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr. Denn dazu hätte es eines gleichwertigen Gegners bedurft, und den konnte - oder wollte? - der HSV gestern Abend nicht abgeben. Das nackte Ergebnis, 27:37 (11:19), drückt das desolate Bild nur unzureichend aus, das der HSV bei einer Mannschaft abgab, die einmal sein Lieblingsgegner war.

Trainer Martin Schwalb ging hernach hart wie noch nie mit seiner Mannschaft ins Gericht: "Der eine oder andere ist nicht in der Lage, seine Leistung im Dreitagesrhythmus auf die Platte zu bringen. Darüber wird zu reden sein." Drei Tage zuvor hatte der HSV in der Tat sein anderes, schönes Gesicht gezeigt, wenngleich der Gegner Balingen-Weilstetten beim 32:19 ein dankbares Opfer abgab.

Gestern aber sah das Spiel vor allem in der Anfangsphase so aus, als müsse man dem HSV sogar die grundlegende Voraussetzung dafür absprechen, die es braucht, ein Spiel zu gewinnen: den Willen. Fast widerstandslos ließ sich die Mannschaft von den Berlinern vorführen, und ehe sie sich nach einer Viertelstunde entschloss, an dem Spiel teilzunehmen, sah sie sich mit 4:14 in Rückstand.

"Leute, seid mal aggressiv!", forderte Schwalb seine Spieler in einer Auszeit fast verzweifelt auf. Seine spätere Erkenntnis, dass es seiner Mannschaft in dieser Anfangsphase an Leidenschaft gemangelt habe, klingt alarmierend. Der Befund gilt keineswegs für alle. Michael Kraus war einer von denen, die Gegenwehr zeigten. Auch dem Spielmacher gelang nicht alles, aber er konnte sich Bundestrainer Martin Heuberger, der auch seinetwegen unter den Zuschauern war, zumindest in einigen Szenen als mögliche Option für die WM im Januar in Spanien empfehlen.

Und natürlich stand Domagoj Duvnjak, der überragende Hamburger Spieler der vergangenen Wochen, sichtlich unter dem Eindruck seiner Innenbanddehnung im Knie. Warum es aber die Torleute Dan Beutler, Enid Tahirovic und Max-Henri Herrmann auf zusammen zwei Paraden brachten, Berlins Silvio Heinevetter aber allein auf 17; warum Pascal Hens mit seinen ersten acht Wurfversuchen scheiterte; warum bei den Berliner Gegenstößen kein Hamburger zurücklief; warum die Berliner immer eine Lücke in Hamburgs Deckung fanden: Für all das gibt es eigentlich keine befriedigende Erklärung. Außer der, dass an diesem Abend eben nichts stimmte. Und bei den Berlinern fast alles. "Das hat unheimlich viel Spaß gemacht", jubilierte Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning. Klub-Präsident Frank Steffel sprach gar von der "besten Leistung, die ich je von den Füchsen gesehen habe".

Das Spiel wirft die Frage auf, welcher eigentlich der wahre HSV ist: der auftrumpfende oder der desolate? Die Wahrheit dürfte wie so oft in der Mitte liegen, genauer: im Mittelmaß. Zu großen Würfen ist diese Mannschaft offenbar nicht in der Lage, zumindest nicht in ihrer aktuellen, stark ausgedünnten Besetzung. "Man merkt natürlich, dass einige auf ihren Positionen zum ersten Mal spielen", sagte Schwalb.

In dieser Situation rächt es sich, dass die Hamburger anders als die Berliner weitgehend darauf verzichtet haben, Talente an die Bundesliga heranzuführen. Zum Ende der Partie brachte Sigurdsson mit Wiede und Drux gleich zwei A-Jugendliche auf den Königspositionen im Rückraum. Insgesamt standen am Ende gar sechs deutsche Spieler für die Füchse auf dem Feld, sie zeigten Heber, Dreher und manches mehr, was das Handballerherz wärmt. Hanning, der frühere HSV-Trainer, sprach von "der Erfüllung meines Traums". Für den HSV war es ein Albtraum.

Tore, Berlin: Lund 7, Igropulo 6 (3 Siebenmeter), Laen 6, Nincevic 5, Romero 4, Sellin 3 (1), Pevnov 2, Jaszka 1, Löffler 1, Spoljaric 1, Wiede 1; HSV Hamburg: Kraus 7, Lindberg 5 (1), Petersen 5, Schröder 4, Duvnjak 2, Hens 2, Flohr 1, Lijewski 1. Schiedsrichter: Hartmann/Schneider (Barleben/Irxleben). Zuschauer: 8639. Zeitstrafen: 3; 3.