Guillaume Gille, Kapitän und Gründungsmitglied des HSV, über den langen Weg zum Erfolg und den kleinen deutschen Mann in seinem Kopf

Hamburg. Im letzten Moment droht das Interview mit Guillaume Gille zu scheitern. Die "Sportsbar" in der Volksbank-Arena ist wider Erwarten geschlossen, und in einer halben Stunde will der französische Kapitän der HSV-Handballer beim Training sein. "Kein Problem", sagt Gille, 34, und setzt sich auf ein Fenstersims im Foyer. Der Olympiasieger und zweimalige Welt- und Europameister trägt Sportkleidung, auch wenn er wegen Beschwerden an der Achillessehne kaum trainieren kann. Die Reise zum Achtelfinalrückspiel der Champions League am Sonntag bei BM Valladolid (18 Uhr/Eurosport) will er trotzdem mitmachen: "Aktiv oder nicht: Solche Erlebnisse lässt man sich einfach nicht entgehen."

Abendblatt:

Herr Gille, nehmen Sie nach der Kieler Heimniederlage gegen Großwallstadt schon Glückwünsche zur deutschen Meisterschaft entgegen?

Guillaume Gille:

Auf keinen Fall. Letztlich beweist das Ergebnis doch nur, wie ausgeglichen die Bundesliga ist.

Der HSV zieht vorn einsam davon.

Gille:

Was ich meine, ist: An einem schlechten Tag können auch wir gegen jeden Gegner Probleme bekommen und Punkte liegen lassen. Diese Gefahr ist groß, deshalb muss ich Ihre Glückwünsche leider zurückweisen.

Die Kieler haben auch schon gratuliert.

Gille:

Das ist eine leichte Übung. Es ändert nichts an der Schwere der Aufgaben, die vor uns liegen. Wir müssen immer noch in Flensburg, in Kiel und bei den Rhein-Neckar Löwen spielen, außerdem zu Hause gegen Großwallstadt und Gummersbach.

Dürfen wir wenigstens zum neuen Vertrag gratulieren? Sie und Ihr Bruder Bertrand sollen mit dem HSV einig sein.

Gille:

Ich kann dazu leider nicht mehr sagen, als dass wir auf einem guten Weg sind. Es geht nur um Details.

Sie werden im Sommer 36. Wie lange wollen Sie noch Handball spielen?

Gille:

Solange ich mich gut fühle. Ich verspüre viel Motivation. Profi zu sein hat nichts von seinem Reiz verloren.

Und Sie nichts von Ihrer Qualität. Trainer Martin Schwalb hat in kritischen Situationen stets Ihnen als Spielmacher den Vorzug vor Domagoj Duvnjak und Michael Kraus gegeben. Gegen Kiel und die Rhein-Neckar Löwen hat das die Wende gebracht. Auch statistisch ist der Angriff mit Ihnen am erfolgreichsten.

Gille:

Tatsächlich? Darf ich Sie als meine persönlichen Berater engagieren? Nein, Spaß beiseite: So ein Spitzenspiel wird nicht auf einer Position oder in einer Situation entschieden. Da spielen viele Details eine Rolle. Für mich zählt letztlich nur, was wir gemeinsam als Mannschaft erreichen können.

In dieser Saison wohl mehr denn je. Ihr Vorsprung auf Kiel beträgt bereits sechs Punkte. Wie fällt Ihre Erklärung für die Stärke des HSV aus?

Gille:

Wir haben ja schon einige gute Saisons gespielt. Dieses Jahr haben wir es geschafft, aus den positiven Erlebnissen der Spitzenspiele sehr viel Selbstvertrauen zu gewinnen. Wir haben einige Partien noch gedreht und schwierige Situationen überstanden. Ein zweiter Parameter ist, dass wir noch ein Jahr länger zusammenspielen konnten, dass Duvnjak und Igor Vori mehr Zeit hatten, sich im Mannschaftssystem einzupassen. Dazu kam Michael Kraus als Verstärkung, der unserem Spiel zusätzliche Perspektiven eröffnet.

Sagt der aktuelle Tabellenstand mehr über die Stärke des HSV oder über die Schwäche des THW?

Gille:

Beides. Dass Kiel zu Hause gegen vermeintlich kleine Gegner Punkte lässt, ist schon ungewöhnlich. Die Bilanz des THW der letzten Jahre war beeindruckend, sie haben die Bundesliga nicht ohne Grund dominiert. Auf der anderen Seite glaube ich schon, dass wir abgeklärter geworden sind, viele Situationen besser lösen als früher, dass wir als Mannschaft stabiler geworden sind. Aber noch ziehen wir lediglich eine Zwischenbilanz. Uns beschäftigt derzeit nur die Frage, wie wir bis zum Ende der Saison erfolgreich bleiben können.

Sie haben die Meisterschaft in der vergangenen Saison äußerst knapp verpasst. Gab es die Gefahr eines Bruchs in der Mannschaft?

Gille:

Natürlich war es Frustration pur, auf der Zielgeraden noch abgefangen zu werden. Aber das passiert im Sport einmal. Kiel war in dem entscheidenden Spiel einfach lockerer. Kein Wunder, sie hatten 15 Meistertitel im Rucksack, das macht es leichter, die richtige Einstellung zu finden. Die wissen, wie es geht. Aber müssen wir deshalb alles hinschmeißen? Das wäre charakterschwach. Es war ja bei aller Enttäuschung trotz allem eine starke Saison, wir haben Superhandball gespielt. Und wo wir es nicht getan haben, müssen wir uns verbessern.

Hätten Sie bei Ihrem Wechsel von Chambéry nach Hamburg geglaubt, dass Sie neun Jahre würden warten müssen, um nach der Meisterschaft zu greifen?

Gille:

Als mein Bruder und ich auf das Projekt HSV aufmerksam wurden, war in unserer Vorstellung alles gigantisch: die Stadt, die Arena, in der Bundesliga gegen die Besten zu spielen. Das war eine unglaubliche Herausforderung.

Aber anfangs auch ein Luftschloss ohne wirtschaftlich tragfähiges Fundament.

Gille:

Ich gebe zu, dass uns das zunächst nicht bewusst war. Wir hatten klarere Strukturen erwartet. Aber wir haben auch schnell verstanden, damit umzugehen. Wir waren in einer neuen Stadt gelandet, in der es keine Handballkultur mehr gab, und waren gänzlich unbekannt. Es ging also darum, langfristig etwas aufzubauen und aus dem sportlichen Ensemble etwas zu kreieren. Puh! Das war spannend und auch schwierig. Wir hatten unglaubliche Führungs- und Finanzkrisen zu überstehen. Und doch hat es sich gelohnt, an der Vision festzuhalten, dass man einen Spitzenhandballverein in der Stadt etablieren kann. Einiges haben wir mit Engagement und Herzblut kompensiert. Aber egal, wie erfolgreich wir sportlich gewesen wären: Wäre Andreas Rudolph nicht als Präsident und Sponsor eingestiegen, hätte das Ding explodieren können.

Haben Sie daran gedacht aufzugeben?

Gille:

Wir waren Ende 2004 nahe dran, einen Schlussstrich zu ziehen. Die Zukunft sah so trüb aus, dass wir über Alternativen nachdenken mussten. Es ging für uns als Profisportler schließlich um eine existenzielle Frage.

Die Handballkultur haben Sie inzwischen geschaffen, die Halle ist voll, der Klub bekannt geworden. Kann man darauf so stolz sein wie auf einen Titel?

Gille:

Ich glaube schon. Vielleicht ist es sogar mehr wert als viele Titel. Das mag jetzt ein bisschen überheblich klingen, aber egal, wie es hier sportlich weitergeht, wird Hamburg eine Handballstadt bleiben. Das ist ein Riesending. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich in 40 Jahren als alter, unbeweglicher Sack immer noch die Ergebnisse des HSV im Internet nachlesen kann.

Können Sie sich auch vorstellen, den HSV in anderer Funktion zu begleiten?

Gille:

Das wird sich ergeben. Bisher haben wir nur über die Perspektiven als Spieler gesprochen. Darauf will ich mich konzentrieren. Ich kann mir für später auch viele andere Beschäftigungen vorstellen als den Handball.

Wie deutsch sind Sie nach inzwischen neun Jahren in Hamburg?

Gille:

Der kleine deutsche Mann in meinem Kopf wird größer und größer. Mein Lebensmittelpunkt ist hier, meine drei Kinder sprechen bald besser Deutsch als Französisch. Man merkt, dass der Einfluss der deutschen Kultur präsenter ist. Wobei ich die Unterschiede zur französischen weniger groß finde als landläufig dargestellt. Im Großen und Ganzen sind wir einander doch sehr ähnlich, das macht es mir leicht, hier zu leben. Außer meiner Familie und meinen Freunden fehlt mir nichts.

Handballerisch sind die Unterschiede groß. Frankreich ist Olympiasieger, Welt- und Europameister. Deutschland ist WM-Elfter und droht EM und Olympia zu verpassen.

Gille:

Bei Frankreich kommen zwei Parameter zusammen: Wir haben eine Supermischung aus erfahrenen Leuten wie mir, die viel erlebt haben, und einer unglaublich talentierten jungen Generation mit Spielern wie Karabatic, Abalo, Guigou. Dazu Thierry Omeyer, den seit fünf Jahren besten Torwart der Welt. Aber Deutschland ist nicht so schlecht, wie es den Anschein hat. Die Mannschaft hat das WM-Halbfinale 2009 um ein Tor verpasst. Die Qualität der jungen Spieler steht für mich nicht infrage. Was fehlt, ist die Geschlossenheit der Mannschaft. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sich Deutschland bald wieder in der Weltspitze etabliert.