HSV-Handballer erreichten mit einem 37:37 beim russischen Meister Medwedi Tschechow zum ersten Mal das Final Four der Champions League

Tschechow. Es lief nicht alles glatt an diesem lauwarmen Frühlingsabend im Hotel Olympia, dem ersten - und deshalb umzäunten wie rund um die Uhr bewachten - Haus am Platz in Tschechow, der Trabantenstadt 70 Kilometer südlich von Moskau. Immer wieder hakte auf dem Computer von Mannschaftsfotograf Michael Freitag die Liveübertragung des Bundesliga-Fußballs FC Bayern gegen Schalke 04. Der Spielfluss der Münchner, haderte Martin Schwalb, sei bei dem ständigen Stoppen des Bildes doch gar nicht zu erkennen. "Wer steht da wieder auf der Leitung", raunzte der Trainer.

Wohl dem Verein, der solche Probleme hat. Die Stimmung war heiter bis ausgelassen in der Lobby der Herberge, der erste Hunger nach einem üppigen Mahl mit Tomatensuppe, Salat, Pommes frites, Geflügel und Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade gestillt, aus dem Festsaal nebenan schwappten die Gesangseinlagen einer Hochzeitsgesellschaft herüber. Zweieinhalb Stunden zuvor hatten die Handballer des HSV ihre Pflicht im Olympischen Sportpalast erfüllt. Mit einem 37:37-(14:19-)Unentschieden hatten sie nach dem 38:24-Hinspielsieg den russischen Meister Medwedi Tschechow im Viertelfinale der Champions League ausgeschaltet und erstmals das Final Four erreicht, die Endrunde der vier besten Vereinsmannschaften Europas. Am 28. und 29. Mai sind Spaniens Meister BM Ciudad Real, der aktuelle spanische Tabellenführer und THW-Kiel-Bezwinger FC Barcelona und die Rhein-Neckar Löwen mögliche Gegner. Das Halbfinale wird heute um 15 Uhr in Köln ausgelost. Der Champions-League-Sieger erhält vom Europäischen Handball-Verband EHF 350 000 Euro Siegprämie, der Vierte kassiert noch 150 000 Euro.

Geld indes spielt bei den Hamburgern derzeit keine große Rolle. Das heißt nicht, der Verein hätte es im Überfluss, keineswegs, aber der sportliche Erfolg hat im Moment Priorität. Und in der Liste der Begehrlichkeiten steht dabei der deutsche Meistertitel obenan. Die Champions League werten Präsident Andreas Rudolph, Trainer Schwalb und die Mannschaft vorerst als Beigabe, und es darf vermutet werden, dass der HSV Ende des Monats nur dann mit letztem Einsatz um die kontinentale Trophäe kämpfen wird, sollte die nationale zumindest virtuell schon in der Vitrine stehen. Für diese Konstellation wäre morgen in Mannheim (19.15 Uhr, Sport1) ein Sieg beim Tabellendritten Rhein-Neckar Löwen hilfreich.

"Wir stecken mitten in der schwersten Bundesliga-Rückrunde in der Geschichte des Vereins", wird Schwalb dann auch nicht müde zu betonen, und in Tschechow fehlte dieser Hinweis in keiner seiner Analysen. Über den Auftritt beim russischen Meister verlor der Coach weit weniger Worte, einige nachdenkliche schon, und die zu Recht. Die zuweilen fehlende Aggressivität in der Abwehrarbeit, verbunden mit Aussetzern in Konzentration und Wahrnehmung, scheinen den Trainer nachdenklich zu stimmen. Die zuletzt ungewohnt hohe Zahl an Gegentreffern ist ein Alarmzeichen, ein erstes Indiz mentaler und körperlicher Erschöpfung: 38 bei der Bundesliga-Niederlage vor zwölf Tagen in Kiel (35:38), diesmal 37. Die ersten 19 davon in Tschechow, die bis zur Halbzeit, hatte der HSV mit der Nonchalance des "Wir haben einen 14-Tore-Vorsprung" gestattet. Als jedoch der erneut überragende Spielmacher Domagoj Duvnjak, sieben Torwürfe, sieben Tore, in der 18. Minute auf die Anzeigetafel an der Stirnwand blickte und dort in roten Lettern eine 12:5-Führung der Russen aufleuchtete, "habe ich schon einen Schreck bekommen", gestand der Kroate. Die Hälfte des Vorsprungs war nach weniger als einem Drittel der Spielzeit aufgezehrt, "da macht man sich seine Gedanken".

Sie kamen zur rechten Zeit. In der zweiten Hälfte drehte der HSV das Spiel, ging in der Abwehr den halben Schritt mehr, der im Handball den Unterschied zwischen einer zu passiven und einer aggressiven und in der Regel erfolgreichen Deckung ausmacht, und im Angriff nahm die Mannschaft jenes hohe Tempo auf, dem die Russen bereits beim Hinspiel in Hamburg nicht hatten folgen können. "Im zweiten Durchgang hat der HSV seine Klasse gezeigt", anerkannte Tschechows Trainer Wladimir Maximow. "Diese Mannschaft kann die Champions League gewinnen. Die Qualität dafür ist auf allen Positionen reichlich vorhanden, von den Torhütern bis zu den Weltklasse-Rechtsaußen Lindberg und Schröder."

Um sie morgen Abend in Mannheim demonstrieren zu können, hat Schwalb am Abend noch ein paar Ansagen gemacht: Keiner verlässt in der Nacht das Hotel (aus Sicherheitsgründen), niemand gesellt sich zu den Hochzeitsgästen (wegen deren unklarer Alkoholpegel), und am Sonntagmorgen wird gegenüber im Park gelaufen. Die Mannschaft, und das macht Mut für den Rest der Saison, ist ihrem Trainer in Tschechow in allen Punkten gefolgt.

Tore, Medwedi Tschechow: Garbok 8, Kowaljow 8 (4 Siebenmeter), Schelmenko 5, Filippow 4, Tschernoiwanow 4, Tschipurin 4, Dibirow 2, Starisch 2; HSV Hamburg: Duvnjak 7, Hens 6, K. Lijewski 5, Vori 5, Lindberg 5 (2), Schröder 4, Flohr 2, Jansen 1, Lackovic 1, Schliedermann 1. Schiedsrichter: Lopez/Ramirez (Spanien). Zuschauer: 1000. Zeitstrafen: 6; 4. Siebenmeter: 4 (4 verwandelt); 4 (2).

Das letzte Bundesliga-Heimspiel des HSV in der O2 World gegen den TBV Lemgo wurde vom 27. Mai auf Mittwoch, den 1. Juni, um 19 Uhr verschoben