Hamburg. Im Pressekonferenzraum des Millerntor-Stadions hängen seit Neuestem Smartkameras, die sich automatisch auf den Redner fokussieren. Keine manuelle Bedienung mehr nötig, modernste Technik – eine erstklassige Anschaffung. Die Ausrichtung der Kameras verlangt es jedoch, dass die Trainer nicht mehr ebenerdig, sondern auf einem erhöhten Podest Platz nehmen müssen.
Die Trockenübung zum Aufstieg musste Fabian Hürzeler zur Saisonauftakt-Presserunde am Donnerstagmorgen daher erstmal bewältigen. Was natürlich gelang, so wie dem Cheftrainer des FC St. Pauli sowieso fast alles zu gelingen scheint.
Ziel sind die Top 25 - und mehr
Zwar war Hürzeler die exponierte Position unangenehm, er bevorzugt es, respektvoll auf Augenhöhe seiner Gesprächspartner zu sein, doch die „schöne Metapher“ wurde auch ihm ersichtlich. Mehr wollte der 30-Jährige nicht daraus machen.
Der Verein habe ja die bekannte Vorgabe, sich in den Top 25 Deutschlands zu etablieren, sollte St. Pauli zum Saisonende nicht in die Bundesliga aufsteigen, sei er nicht enttäuscht. Na freilich…
St. Pauli extrem ambitioniert
Da Hürzeler ein Mann des Klartextes ist, ist er eben auch ein schlechter, weil ungeübter Lügner. Die sportlichen Ambitionen von Coach und – wahrscheinlich wichtiger – der Mannschaft schießen durch die Decke.
Intern versammeln sich alle hinter einem Saisonziel: dem Aufstieg. Und das mit absolutem Recht. Denn St. Pauli vereint mehrere Eigenschaften, die angehende Erstligisten gemein haben.
Schalke Topfavorit auf den Aufstieg
„Wir sind nicht deutlich besser, aber auch nicht deutlich schlechter als andere Zweitligisten“, lautet die Verklausulierung Hürzelers hierfür. Verstecken? Vor wem denn?
Vielleicht dem FC Schalke 04, den Hürzeler als stärkstes Team der Zweiten Liga einschätzt. Ansonsten verfügt St. Pauli über mehr Kontinuität als Hertha BSC, mehr Gesundheit als der HSV, mehr Klasse als Fortuna Düsseldorf, Hannover 96 und der SC Paderborn.
Kaderkontinuität ein großes Plus
Allein, einen Kader größtenteils zusammenzuhalten, der in der Rückrunde 41 von 51 möglichen Punkten geholt hat, ist eine Entscheidung, deren Smartness der der Kameras im Stadion gleicht. Mannschaften, die im Kern zusammenbleiben, schneiden in der Folgesaison mehrheitlich besser ab, zumal Ergebnisse aus der Rückrunde eine deutliche Korrelation zur Hinrunde der nächsten Serie aufweisen.
St. Paulis nahezu ausschließlich mit guten bis sehr guten Zweitligaspielern besetzte Stammelf zu Saisonbeginn ist auf neun von elf Positionen unverändert, die Tiefe des Teams ist enorm. Selbst der Abgang des dominanten Spielmachers Leart Paqarada auf der linken Seite wurde durch eine Systemumstellung abgefedert.
St. Pauli agiert pragmatisch
Womit das Objektiv auf die nächste große Stärke des Kiezclubs gerichtet wäre: den Pragmatismus Hürzelers. Der gebürtige Texaner ist auf kein System festgelegt, St. Pauli beherrscht die Dreier-/Fünferkette ebenso wie die Viererkette jeweils auf hohem Qualitätsniveau.
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Wenn die „klare eigene Identität“ zur Sprache kommt, ist es, simpel formuliert, vor allem die Vielseitigkeit, die gemeint ist. Die Hamburger dominieren Partien mit Ballbesitz und Offensivfußball, „wollen die Gegner bespielen“, wie Hürzeler sagt, sind aber genauso in der Lage, die defensive Balance herzustellen. Kein Gespräch über Fußball mit Hürzeler, bei dem das Kameramikrofon nicht mindestens einmal das Wort Konterabsicherung aufnimmt.
Spieler begrüßen Konflikte
Hinzu kommen die Heimstärke am Millerntor, die keiner tiefergehenden Erklärung mehr bedarf, sowie ein Teamgeist, der nicht nur gemutmaßt werden kann, sondern der offensichtlich ist. Seit einigen Wochen klatschen sich die Spieler im Training und bei gelungenen Aktionen im Spiel regelmäßig ab.
„Konflikte werden begrüßt, weil die Jungs wissen, dass wir durch deren Lösung vorankommen“, sagt Hürzeler. Ein ähnlich komplettes Paket kann kein Konkurrent aufbieten – eigentlich. Ein Wort, das viel verändern kann.
Hürzeler will 20-Tore-Stürmer
Denn in einer Kategorie hinken die Braun-Weißen hinterher – allerdings einer sehr entscheidenden. Wiederkehrendes Merkmal von Aufsteigern ist das Vorhandensein eines potenten Torjägers. St. Pauli verfügt bestenfalls über potenzielle. „Ich bin immer noch zufrieden mit dem Kader“, sagte Hürzeler dazu, hüstelte ein Lachen, um dann zu ergänzen, dass „er gern einen 15-bis-20-Tore-Stürmer“ im Team hätte – „natürlich“.
Ironischerweise nutzte er damit fast wortgleich die Formulierung, die sein Vorgänger Timo Schultz verwendet hatte, nachdem seine von leistungsfähigen Mittelstürmern befreite Mannschaft vergangene Saison 1:2 beim 1. FC Kaiserslautern verloren hatte – jenem Gegner, bei dem St. Pauli am Sonnabend (13 Uhr) in die neue Saison startet.
St. Pauli wird Stürmer holen
Schultz bekam den Knipser damals nicht mehr. Hürzeler wird ihn bekommen. St. Pauli sondiert den Markt. Bewegung könnte in zwei Wochen hineinkommen, wenn wechselwillige Spieler von Erst- oder Zweitligisten in der ersten DFB-Pokalrunde relativ gefahrenlos herausgehalten werden können.
Sollte ein Verkauf von Jakov Medic vollzogen werden, erscheint ein Preisschild von gut 1,5 Millionen für einen neuen Angreifer realistisch. Es wäre die letzte Stufe auf dem Weg nach ganz oben. Ein Weg, so viel steht jetzt schon fest, den St. Pauli sehr smart angeht.
Die Spielbank Hamburg ist neuer Sponsor des FC St. Pauli in der Kategorie "Kapitän". Die Entscheidung, einen Glücksspielanbieter als Partner zu präsentieren, wurde in der Fanszene kritisch aufgenommen. St. Pauli verweist darauf, dass die Spielbank Hamburg anlässlich des Glücksspielstaatsvertrages wichtige Funktionen in den Bereichen des Jugend- sowie Spielerschutzes erfüllt.
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