St. Paulis Trainer Lienen setzt im Abstiegskampf auf mentale Stärke. DFB-Sportpsychologe: „Reden allein reicht nicht“

Hamburg. Es gibt kaum eine sportliche Situation, die Ewald Lienen in seiner langen Karriere als Spieler und Trainer noch nicht erlebt hat. Als Tabellenletzter (St. Pauli) zum Drittletzten (1860 München) zu reisen ist für den 61 Jahre alten Coach daher kein Grund, unruhig zu werden oder gar Angst zu verspüren. „Angst ist immer ein schlechter Ratgeber“, sagte der Trainer des Hamburger Zweitligisten zwei Tage vor der Partie bei den Münchner Löwen (Sonnabend, 13 Uhr/Sky und Liveticker auf abendblatt.de). „Druck ist immer da, das ist doch völlig normal“, sagte Lienen. „Für uns ist wichtig, dass wir uns auf uns selbst konzentrieren und nicht auf die Tabelle schielen.“

Beim FC St. Pauli muss derzeit auch niemand auf die Tabelle schielen. Allen Beteiligten ist die prekäre Situation bewusst. Ein Punkt beträgt der Rückstand auf Relegationsplatz 16, drei Zähler sind es auf den ersten Nichtabstiegsplatz. Die Plätze belegen die kommenden beiden Gegner der Hamburger, 1860 München und Erzgebirge Aue. Eine Konstellation, die einen besonderen Druck erzeugt. Für Trainer Lienen gilt es, seine Spieler mental auf zwei Nervenspiele einzustellen. „Als Trainer ist man immer auch Psychologe“, sagt Lienen. „Entscheidend wird sein, dass wir die Nerven bewahren und mental so auftreten wie zuletzt.“

Die nervenaufreibende 0:1-Niederlage gegen Greuther Fürth am Montag hat die Drucksituation beim FC St. Pauli aber noch verschärft. Für die Spieler gehe es nun darum, sich im Kopf frei zu machen. Das sagt DFB-Sportpsychologe Werner Mickler. Der 61-Jährige hat bereits mehrere Bundesligisten im Abstiegskampf betreut. Der Druck sei in so einer Situation gravierend. „Es geht um Existenzängste. Das ist ein Riesenunterschied beispielsweise zu einem WM-Finale. Dort herrscht ein positiver Druck, man kann etwas gewinnen“, sagt Mickler.

St. Pauli hat im Moment viel zu verlieren. „Jedem muss bewusst sein, dass der Abstieg ein großer Rückschritt für den Verein wäre. Es geht auch um Existenzen und Arbeitsplätze, darüber müssen wir uns Gedanken machen“, sagt Routinier Florian Kringe. Zu viele Gedanken sollten sich die Spieler aber nicht machen, meint Sportpsychologe Mickler. „Es ist wichtig, den Druck von der Mannschaft zu nehmen und die Spieler nicht mit zu vielen negativen Dingen zu konfrontieren“, sagt Mickler. Psychologische Hilfe könne hilfreich sein, aber nur dann, wenn es von der Mannschaft auch gewünscht sei.

„Das muss die Mannschaft gemeinsam mit dem Trainer entscheiden“, sagt Mickler. Einen Spieler auf eine Couch zu legen und ihm gut zuzusprechen reiche ohnehin nicht aus. Entscheidend sei es laut Mickler, die Stresssituationen zu trainieren. Das gelte vor allem für St. Paulis zuletzt glücklose Stürmer. Bei Ante Budimir und John Verhoek, die in den Spielen gegen Sandhausen (0:0) und gegen Fürth beste Chancen vergaben, könne eine Blockade im Kopf nur gelöst werden, indem sie sich im Training wieder Sicherheit erarbeiten. „Sie müssen sich das Vertrauen in ihre Fähigkeiten zurückholen“, sagt Mickler. Ein Mentaltrainer sei dafür nicht unbedingt notwendig.

Eine Ansicht, die Ewald Lienen teilt. „Wir können uns im Moment nur selbst helfen“, sagt St. Paulis Trainer. Mit Thomas Stickroth verfügt der Verein zwar über einen Mentalcoach. Doch seit Lienen beim Kiezclub das Sagen hat, ist Stickroth kaum noch präsent, war auch im Trainingslager in Belek nicht dabei. Lienen übernimmt die Gespräche mit den Spielern lieber selbst. „Ich will hören, ob die Jungs im Kopf frei sind. Es ist wichtig mitzubekommen, was in den Köpfen der Spieler vorgeht, damit man gegebenenfalls gegensteuern kann“, sagt Lienen, der seinen Spielern aber jederzeit freistellt, das Gespräch mit Stickroth zu suchen.

Gegen Ängste im Abstiegskampf gibt es kein psychologisches Patentrezept

Um Spielern Ängste vor einem Abstieg zu nehmen, gibt es laut Mickler auch kein Patentrezept. Wichtig sei es, die Automatismen im Training zu erarbeiten. Die besten Stürmer, sagt Mickler, würden sich nach dem Training noch Zeit nehmen, um sich ein gutes Gefühl zu erarbeiten. „Wer mit einem negativen Gefühl in ein Spiel geht und nachdenkt, der kann seinen Automatismen nicht vertrauen“, sagt Mickler.

St. Paulis Stürmer dürften bei 1860 München mit einem guten Gefühl in das Spiel gehen. Unter der Woche ließ Lienen sie immer wieder am Torabschluss arbeiten. Ante Budimir beendete eine Einheit sogar mit einem Seitfallziehertor. „Ewald Lienen ist so ein erfahrener Mann“, sagt Mickler, „er wird wissen, was er zu tun hat.“