Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt bekennt sich St. Paulis Trainer Ewald Lienen zum Teamwork und hält die Zusammenarbeit mit Sportchef Thomas Meggle für „hervorragend“.

Hamburg. Ewald Lienen ist ein wenig im Stress. Es ist der vierte Tag der Vorbereitung mit dem FC St. Pauli, gleich beginnt die Nachmittagseinheit. Lienen sitzt beim Italiener Osteria Liguria an der Kollaustraße und bestellt einen koffeinfreien Cappuccino. „Sonst kriege ich gleich Herzrhythmusstörungen“, sagt der 61 Jahre alte Übungsleiter und lacht. Dann zückt er seinen Top-Coach, ein Notizbuch für Fußballtrainer, und zeigt seine Taktikanalysen der vergangenen Monate. Schon Wochen vor seiner Amtsübernahme am 16. Dezember hat Lienen Spiele des FC St.Pauli beobachtet.

Hamburger Abendblatt: Bevor das Präsidium des FC St.Pauli Sie als Trainer verpflichtet hat, sollen Sie als externer Berater gebeten worden sein, die Probleme der Mannschaft zu analysieren. Wie muss man sich diesen im Profifußball ungewöhnlichen Vorgang konkret vorstellen?

Ewald Lienen: Ein sehr guter Freund von mir, der selbst im Profifußball aktiv ist, kennt Mitglieder des neuen Präsidiums. Es gab dann einen Informationsaustausch. Das fand ich ausgesprochen gut und sehr professionell. Ich habe es vorher auch noch nie erlebt – und ich habe in meinem Leben ja bereits mit vielen Vorständen zu tun gehabt –, dass sich ein künftiges Präsidium monatelang auf die Aufgabe bis ins letzte Detail vorbereitet und alle Möglichkeiten nutzt, sich zu informieren. In diesem Prozess habe ich ein paar Stunden mit Präsidiumsmitgliedern zusammengesessen. Sie haben mich kennengelernt und ich sie. Es waren super interessante Gespräche.

Offenbar waren Sie auch sehr gut auf die Gespräche vorbereitet. Die Rede ist von detaillierten Videoanalysen, mit denen Sie die Probleme der Mannschaft dokumentiert haben.

Lienen: Das ist für mich selbstverständlich, wenn ich zu einem Gespräch gebeten werde. Es gibt ja heute diverse Scouting-Portale, die einem die verschiedensten Szenen für jede Mannschaft liefern. Dazu mache ich mir natürlich bei jedem Spiel, das ich mir anschaue, auch entsprechende Notizen. Ich hatte auch schon vor dem Kontakt einige Spiele von St. Pauli in dieser Saison gesehen. Als ich zum Gespräch gebeten wurde, habe ich sie mir noch einmal genauer angeschaut. Diese Portale liefern ja beispielsweise alle Standardsituationen oder Aktionen einzelner Spieler.

So gesehen hat sich der Fußball in den vergangenen Jahren viel verändert.

Lienen: Ich habe schon vor 15 Jahren, als es diese Programme noch nicht gab, Videoanalysen selbst erstellt. Zum Ende der 90er-Jahre gab es das erste Videoanalysesystem. Das kam aus Norwegen, und man hatte in jeder Hand eine Festplatte, die so schwer war, dass man damit Krafttraining machen konnte.

Sie schreiben aber auch immer noch per Hand viel auf. Ihre Zettelwirtschaft existiert offenbar noch.

Lienen: Mittlerweile ist es ein Ringbuch geworden, in dem ich die wichtigen Dinge aufschreibe. Früher war es noch ein Abreißblock, den man nicht umklappen konnte. Deshalb waren es immer drei lose Blätter pro Spiel. Der Top-Coach-Hersteller hat sich auch weiterentwickelt.

Sie waren zuletzt viel im Ausland, in Spanien, Griechenland und Rumänien beschäftigt. Hatten Sie zwischenzeitlich mal das Gefühl, dass in Deutschland mehr und mehr die jüngeren, sogenannten Konzepttrainer gefragt sind?

Lienen: Ich kann ja niemanden zwingen, mich zu verpflichten. Aber ich glaube nicht, dass es um Jung oder Alt geht. Es ist eher so, wie Otto Rehhagel schon über Spieler gesagt hat, dass es keine jungen oder alten, sondern nur gute oder schlechte Spieler gibt. Tatsache ist, dass man als Trainer mit der Zeit gehen muss. Ich habe mich schon vor 15 Jahren amüsiert, als von Konzepttrainern die Rede war. Als Trainer haben wir auch schon vor 20 Jahren Dinge gemacht, die zehn Jahre danach als große Neuerung verkauft wurden.

Dass Sie jetzt ausgerechnet Otto Rehhagel zitiert haben, überrascht uns aber.

Lienen: Warum? Otto hat mir doch nichts getan.

Das haben Sie auch mal anders gesehen. Als Sie damals in Bremen die große Fleischwunde am Oberschenkel erlitten haben, haben Sie Rehhagel vorgeworfen, seinen Verteidiger Norbert Siegmann gegen Sie aufgestachelt zu haben.

Lienen: Wie lange ist das jetzt her?

Das war im August 1981.

Lienen: Sehen Sie, das ist mehr als 33 Jahre her. Wir waren sogar ganz gut befreundet und haben uns in der Zeit, als wir beide in Griechenland tätig waren, recht häufig getroffen und gemeinsam mit unseren Frauen gegessen. Über das Thema wurde nie mehr geredet.

Sie wirken ausgesprochen fit, nehmen teilweise noch selbst an Trainingsformen teil. Leben Sie selbst so gesund, wie Sie dies von Ihren Spielern erwarten?

Lienen: Wenn ich so gesund leben würde, würde ich ja selber noch spielen. Aber mit der Weisweiler-Elf habe ich zum Beispiel im Jahr 2013 rund 20 Spiele bestritten und den Schiedsrichter immer überredet, dass wir auch volle 90 Minuten spielen. Ich habe immer noch einen riesigen Spaß am Fußballspielen und an der Bewegung.

Durch welche Trainer sind Sie am stärksten geprägt worden, und wer hat Sie dazu gebracht, selbst Trainer zu werden?

Lienen: Udo Lattek hat sehr gut analytisch und im Detail gearbeitet. Die meisten Jahre habe ich dann unter Jupp Heynckes gespielt, der mich am meisten geprägt hat und von dem ich am meisten mitgenommen habe. Aber auch Trainer wie Ernst Happel, Hennes Weisweiler oder Johan Cruyff, unter denen ich nicht gespielt habe, haben mich beeinflusst. Am Ende haben mich meine Frau und Dieter Fischdick, der damalige Präsident des MSV Duisburg, in die Richtung geschoben, selbst Trainer zu werden. In Duisburg habe ich dann noch bei den Profis gespielt und die Amateurmannschaft trainiert.

Sie haben als Spieler für den Landtag Nordrhein-Westfalen kandidiert, gelten als Linker. Können Sie sich mit dem FC St. Pauli auch politisch identifizieren?

Lienen: Die generelle Ausrichtung des Clubs, des neuen Vorstands und vieler Menschen, die für diesen Verein tätig sind, mit den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Aussagen kommt mir sehr entgegen. Diese kann ich vorbehaltlos unterschreiben.

Sind die Spieler heute nicht mehr politisch genug?

Lienen: Das war doch nie anders. Als ich Ende der 70er-Jahre mit Mitte Zwanzig ein politisches Bewusstsein entwickelt habe, gab es das große Wettrüsten. Ich war engagiert in der damaligen Friedensbewegung. Als ich meine Meinung gesagt habe, bekam ich viel Gegenwind. Politiker wollten mir verbieten, mein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung zu nutzen. Seitdem hat sich nicht viel verändert. Auf dem Papier sind wir eine Demokratie, ich kann aber nicht erkennen, dass sich viele Menschen demokratisch betätigen. Wo werden unsere Kinder zu Demokraten erzogen, die in der Lage sind, Ihre Interessen durchzusetzen?

Erziehen Sie Ihre Spieler zu Demokraten?

Lienen: Demokratisch zu sein bedeutet für mich, dass ich eine Meinung habe, mich mit einer Thematik beschäftige und meine Meinung einbringe. Dass ich nicht über die Mannschaftsaufstellung abstimmen lasse, ist doch klar. Aber wenn ein Spieler keine Meinung hat zu unserem Spiel, sich nicht mit unserer Taktik beschäftigt und nicht in der Lage ist, seine Kollegen zu coachen, kann er auch nicht mitspielen.

Werden diese Werte im Abstiegskampf wichtig sein?

Lienen: Natürlich. Die Kommunikation ist super wichtig. Darauf weisen wir im Training ständig hin. Bei jeder Übungsform ist es wichtig, dass sich die Spieler auch untereinander coachen. Jeder darf seine Meinung sagen. Ich kann einer Mannschaft kein taktisches Korsett verpassen, bei dem die Hälfte der Mannschaft denkt, das ist nicht das richtige. Eine Streitkultur gehört zur Demokratie.

Wie demokratisch ist die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Sportchef Thomas Meggle? Sind Sie der starke Mann?

Lienen: Bei uns gibt es keine starken Männer. Wer mich kennt, der weiß, dass ich ein Teamplayer bin. Die Zusammenarbeit mit Thomas Meggle läuft hervorragend. Wir verpflichten nur einen Spieler, wenn wir beide von ihm überzeugt sind. Auch die Zusammenarbeit mit dem Präsidium ist sehr gut. Dieses Starke-Mann-Getue gehört der Vergangenheit an, das bringt keinen weiter.

Stimmt die Hierarchie im Team?

Lienen: Ich habe einen positiven Eindruck, dass es in der Mannschaft stimmt. Sonst wäre das Spiel gegen Aalen (3:1, die Red.) mit so einer verunsicherten Mannschaft nicht möglich gewesen. Das geht nur, wenn man Typen hat, wenn eine gute Grundatmosphäre da ist. Das ist bei der Mannschaft absolut der Fall.