St. Paulis neuer Präsident Oke Göttlich erklärt, warum der Club professioneller werden muss und er Sportchef Rachid Azzouzi den Rücken stärkt

Hamburg. Am Dienstagabend hatte Oke Göttlich, seit dem 16. November Präsident des FC St. Pauli, als Talkteilnehmer bei „Anstoß! Hamburg“ im Radisson Blu Hotel am Dammtor vor rund 200 Gästen aus Sport, Medien und Wirtschaft einen seinen ersten öffentlichen Auftritte in der neuen Funktion. Zuvor nahm sich der 38-Jährige Zeit für ein ausführliches Interview mit dem Abendblatt, sprach über seine Pläne und die sportlich prekäre Situation des Zweitligateams.

Hamburger Abendblatt: Ein Leser hat uns eine Mail mit folgendem Inhalt geschickt: „Liebe Sportredaktion, nach dem erneuten Gruselkick des FC St. Pauli in Leipzig muss der für diesen Kader verantwortliche ,Manager‘ Azzouzi endlich entlassen werden. Herr Präsident, übernehmen Sie! Sonst ist die 3. Liga bald Realität!“ Also: Wann übernehmen Sie?

Oke Göttlich: Ich übernehme seit dem vorletzten Sonntag – nämlich die Verantwortung. Wir stehen beim FC St. Pauli dazu, dass wir auch bei Gegenwind eine Haltung bewahren. Wir stehen selbstverständlich zu Leuten, die für uns arbeiten und Gutes für uns geleistet haben – zum Beispiel Spieler verpflichtet haben, von denen wir alle glauben, dass sie gut zu uns passen. Wir stehen bei entgegenschlagender Gischt auf der Brücke und werden kämpfen, bis wir Tabellenplatz 14 oder 15 erreicht haben.

Es geht also weiter mit Rachid Azzouzi?

Göttlich: Es geht definitiv weiter mit Rachid Azzouzi, denn ich finde, unserem Verein steht es sehr gut, zu sagen: Wir möchten hier eine Haltung entwickeln. Und diese Haltung heißt: Wir möchten mit Leuten, die Verantwortung übernehmen, weiterarbeiten. Denn auch ein Wechsel auf der Position des Sportchefs würde jetzt überhaupt keinen Effekt für die spielerische Qualität bringen. Die Kritik des E-Mail-Schreibers an der Kaderzusammenstellung möchte ich auch zurückweisen. Als die Spieler verpflichtet wurden, waren alle – auch im Umfeld – mit den Verpflichtungen zufrieden, zumal wir uns häufig gegen namhafte Konkurrenz durchsetzen konnten. Warum dann aber der eine oder andere seine Leistung nicht im gewünschten Maße abrufen kann, versuchen wir gemeinsam mit dem gesamten Funktionsteam zu ergründen und zu korrigieren. Vielleicht würde ich mich bei einigen, zum Beispiel dem E-Mail-Schreiber unheimlich beliebt machen, wenn wir uns von Rachid Azzouzi trennen. Aber wir reden hier über Menschen und den FC St. Pauli. Wir sollten bei diesem Verein keine symbolische Effekthascherei betreiben, die uns keinen Schritt voran bringen würde.

Der Aufsichtsrat hatte dem alten Vorstand vorgeworfen, zu leichtgläubig die Transfers durchgewunken zu haben, die Rachid Azzouzi vorgeschlagen hatte.

Göttlich: Es ist definitiv so, dass es Unterschiede gibt, wie Entscheidungen in einem jungen, modernen Unternehmen und in einem Fußball-Umfeld getroffen werden. Da gibt es sicherlich Anpassungsbedarf. Deshalb werden wir das Sechs-Augen-Prinzip bei Transfer-Entscheidungen praktizieren. Wir werden klar formulieren, was für und gegen eine bestimmte Personalentscheidung spricht und dann eine gemeinschaftliche Empfehlung aussprechen.

Haben Sie nach zehn Tagen schon richtig realisiert, dass Sie an der Spitze des Clubs stehen, den Sie seit Jahrzehnten lieben, dass Sie hier jetzt der Boss sind?

Göttlich: Dieses Bild vom Boss oder Chef gefällt mir nicht wirklich, aber ich akzeptiere es. Ich stelle mich der Verantwortung und bin bereit, Nackenschläge einzustecken und mir sagen zu lassen, was hier alles falsch läuft. Aber dieser Verein lebt ausschließlich davon, dass hier Leute miteinander die bestmögliche Arbeit machen und wir immer dann besondere Stärke beweisen, wenn wir kämpfen müssen. Für unsere inhaltlichen Werte und auch sportlich.

Ist Thomas Meggle für diese Situation der richtige Trainer?

Göttlich: Alle haben ihn vor zwölf Wochen hochgelobt, als er angetreten ist. Und er ist auch jetzt der richtige Trainer, weil er mit Akribie und guter Ansprache versucht, aus diesem Team das Beste herauszuholen. Und wer will garantieren, dass ein anderer Trainer mit diesem Team erfolgreicher wäre. Wir sollten uns eher fragen, warum es jetzt drei Trainern nicht so richtig gelungen ist, so zu arbeiten, wie sie eigentlich von ihrer inhaltlichen Stärke könnten.

Welche Antwort haben Sie darauf?

Göttlich: Meine Antwort ist ganz klar, es geht um Teamwork um das Team herum, so dass auch ein komplettes, widerstandsfähiges Team auf dem Platz agieren kann. Der Weg, dass wir uns Einzelne herauspicken, die eine schwierige Situation alleine verantworten, gehört der Vergangenheit an. Gemeinsam stellen wir uns in den Gegenwind, so wie das Team sich gegen Angriffsbemühungen des Gegners stellt. Wir brauchen doch heute nicht davon reden, dass es Fehler in der Vergangenheit gab. Genau dieser Blick in die Vergangenheit hilft uns jetzt nicht weiter.

Noch einmal zum Sechs-Augen-Prinzip: Ist bei Ihnen im neuen Präsidium genügend Expertise vorhanden, um die Qualität von Spielern zu beurteilen. Auf den ersten Blick scheint dies nicht so.

Göttlich: Ein Präsidium ist nicht dazu da, eine sportliche Entscheidung zu treffen, ob ein Spieler zum Beispiel genügend Passdruck auf dem linken Fuß hat. Wir können aber beurteilen, wie sich ein Spieler im Gespräch gibt, ob er auch Drucksituationen gewachsen ist, ob er eine mentale Stärke besitzt und ob er zu diesem Verein passt. Die Vermutung liegt ja sehr nahe, dass die Druckresistenz nicht bei allen Spielern derzeit wahnwitzig hoch ist, wenn man sieht, dass wir hier seit eineinhalb Jahren in den Heimspielen selten einen Fuß auf den Boden bekommen.

Was stand bei Ihnen in den ersten Tagen im Mittelpunkt der Arbeit?

Göttlich: Ich habe mit sehr vielen Personen im Verein und auf der Geschäftsstelle gesprochen, Gesprächstermine mit der sportlichen Leitungsebene abgehalten sowie Meetings mit allen Personen im Funktionsteam terminiert. Dazu haben die Kollegen und ich an den Bereichsleitersitzungen teilgenommen und uns Arbeitsabläufe angeschaut. Dazu bin ich dabei zu prüfen, ob die Einrichtung von Dokumenten- und Aufgabenmanagementtools Sinn ergeben.

Da scheint es Handlungsbedarf zu geben.

Göttlich: Ich habe das Gefühl, dass geführtere Prozesse und Abstimmungen – gerade im sportlichen Bereich – sehr sinnvoll sind. Wir brauchen künftig eine professionelle Arbeitsweise mit einem klaren Berichtswesen.

Das hört sich nach Behörde an, was scheinbar nicht zum FC St. Pauli passt.

Göttlich: Zum FC St. Pauli passt, dass wir in den Bereichen, wo es um professionelle, leistungsorientierte Sachverhalte geht, auch so arbeiten. Behördlich heißt nicht langsam, es bedeutet vielmehr, dass jeder weiß, wo es langgeht und man dann den Kopf frei hat, um links und rechts kreativ, wild und frei denken zu können. Da halte ich es mit Improvisationsmusikern oder genialen Fußballern. Erst nach tausenden Stunden Handwerk kommt das freie Spiel.

Sie kommen aus der engagierten Fan-Szene des Clubs, die meisten Aufsichtsratsmitglieder auch. Spüren Sie selbst eine hohe Erwartungshaltung, was die Durchsetzung von Fan-Interessen angeht? Insbesondere auch Interessen, die sich nicht mir den Vorschriften des DFB und der DFL sowie den Gesetzen vereinbaren lassen – Stichwort Pyrotechnik.

Göttlich: In erster Linie wollen doch alle Fans, die seit Jahren engagierten und auch die Tagesfans, dass unsere Mannschaft ein Tor mehr schießt als der Gegner. Kein Mensch, kein Aufsichtsrat und keine AFM (Abteilung Fördernde Mitglieder, die Red.) erwartet von mir etwas Unrealistisches, also etwa, dass ich am Saisonende mit einem Pyrostab auf der Südtribüne stehe. Ich finde nur, dass viele Fragen zu diesem Thema und zu anderen Themen sehr früh und sehr bewusst einseitig beendet worden sind. Deshalb wird der FC St. Pauli auch fragen dürfen, ob ein Dialog dazu noch einmal aufgenommen wird.