Mannschaftskapitän Fabian Boll blickt emotional zurück auf seine einzigartige, zwölf Jahre lange Karriere beim Hamburger Kiezclub

Hamburg. Fast wäre alles vorbei gewesen, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Fabian Boll war im Sommer 2003 nach einem Jahr in der zweiten Mannschaft zu den Profis des FC St. Pauli aufgerückt. Statt dreimal die Woche Training musste der damals 24-Jährige nun täglich auf dem Platz stehen. Prompt zog er sich in Folge von Überbelastung eine Schambeinentzündung zu. Fast vier Monate musste er pausieren. Kaum zurückgekehrt, zitierte Co-Trainer Harald Gärtner den Neuling in einen der maroden Container an der alten Geschäftsstelle. Seine Leistungen seien zu dünn für die Regionalliga, sagte Gärtner, er solle sich Gedanken machen und nach einem neuen Verein Ausschau halten. Das Ende am Millerntor? – Boll erinnert sich:

„Ich durfte nicht mit ins Trainingslager reisen und mit der Mannschaft trainieren, musste auf dem Platz nebenan üben. Ich war quasi die alleinige Trainingsgruppe II. Das war natürlich ein Schlag ins Gesicht. Das erste Jahr bei den Profis, in deinem Club und dann das. Du verlierst viel an Romantik, wenn du in einen Verein hineinschaust, bei dem du als Fan alles toll fandst.“

In diesen Tagen, den letzten seiner Profikarriere, kommen diese Geschichten wieder hoch. Vom aussortierten Nachwuchsmann zum Aufstiegs-, Pokal- und Derbyhelden in 324 Spielen mit 46 Toren für St. Pauli. Zuvor spielte Boll im Jugend- und Amateurbereich für den Itzehoer SV, die U19 des HSV, den TSV Lägersdorf, den 1. SC Norderstedt – und in der Faustball-Jugendnationalmannschaft. Im Heimspiel gegen Erzgebirge Aue am Sonntag (15.30 Uhr) führt der gebürtige Bad Segeberger sein Team nun letztmals in einem Pflichtspiel am Millerntor als Kapitän auf den Rasen. Dann endet eine zwölfjährige Ära beim Kiezclub.

Denn nicht Boll musste sich damals im Winter 2004 nach einem neuen Verein umsehen, sondern Trainer Franz Gerber und Assistent Gärtner, die nach elf Spielen ohne Sieg entlassen worden waren. Boll schoss am gleichen Wochenende zwei Tore für die Amateurmannschaft. Trainer-Nachfolger Andreas Bergmann berief ihn im kommenden Spiel nicht nur zurück ins Profiteam, sondern gleich in die Startelf. Nach 73 Minuten zahlte Boll das Vertrauen mit dem 1:0-Siegtreffer gegen Chemnitz zurück. „Ich bin Andi Bergmann unheimlich dankbar dafür, dass er mir damals die Chance gegeben hat“, sagt Boll heute. Er hatte sich durchgebissen. In einer Phase, in der der Verein sportlich und finanziell am Boden lag. „Das war die schlimmste Zeit der Vereinsgeschichte. Doch dass man kurz vor dem Exitus stand, war mein persönlicher Glücksfall. Ich wäre nie in den Kader gerutscht, wenn St. Pauli nicht in die Dritte Liga abgestiegen wäre.“

Um seine Chance kämpfen musste die Nummer 17 St. Paulis oft. Ob in der Regionalliga, später in der Zweiten Liga und der Bundesliga – da kann der Boll nicht mithalten, hieß es stets. „Wenn die Zeitungen vor der Saison ihre Traumelf aufschrieben, war mein Name nie dabei“, erzählt der defensive Mittelfeldspieler. Boll, der Unterschätzte?

„Ich bin jedes Jahr totgesagt worden. Viele Leute haben lange nicht an mich geglaubt, aber das hat mir immer noch ein paar Prozentpunkte gegeben, weil ich es ihnen zeigen wollte. Mein Credo war: Je höher man gejubelt wird, umso tiefer kann man fallen. Die Gefahr bestand bei mir nie.“

Bejubelt werden sollte Vorzeigekämpfer Boll, der laut Aussage seiner Eltern über mehrere Ecken mit HSV-Legende Uwe Seeler verwandt ist, in den folgenden Jahren dennoch wie kaum ein anderer Spieler, der je das braun-weiße Trikot trug. In der Saison 2005/2006 schlug der Regionalligist St. Pauli im DFB-Pokal die Erstligisten Bremen und Berlin und scheiterte erst im Halbfinale am FC Bayern. „Das war die Geburtsstunde des St.-Pauli-Gefühls“, sagt Boll mit Stolz. „Mit dieser Gruppendynamik konnte kommen, wer will. Am Millerntor hatten die alle keine Chance.“ Boll wurde Anführer einer goldenen Spielergeneration, die es in dieser Form auf St. Pauli wohl nie wieder geben wird. Ein Team von Spielern, die nicht durch ihr individuelles fußballerisches Können bestachen, sondern über das Kollektiv funktionierten und die erfolgreichste Ära der Vereinsgeschichte ermöglichten. Mit den Siegen im Pokal sanierten Boll, Fabio Morena, Marcel Eger, Florian Lechner, Ralph Gunesch und Co. den Verein finanziell. „Damals haben wir die Tragweite gar nicht so richtig begriffen“, erinnert sich Boll. „Als wir im Viertelfinale Bremen ausgeschaltet hatten, kam Marcus Schulz (damals Vizepräsident für Finanzen/d.Red.) uns jubelnd entgegen gelaufen und schrie: ‚Wir sind schuldenfrei!‘ Da wurde mir bewusst, was für eine Leistung wir vollbracht hatten.“

Unter Trainer Holger Stanislawski krönten die Rückkehr in die Zweite Liga (2007), der Aufstieg in die Bundesliga (2010) und der anschließende erste Derbysieg über den HSV (1:0) nach 34 Jahren seine Laufbahn. Im Hinspiel gegen den Stadtrivalen hatte Boll beim 1:1 sogar den Führungstreffer erzielt. „Ich habe das Millerntor nie wieder so laut und intensiv erlebt“, erzählt er.

Dass Boll aber überhaupt in Hamburg und am Millerntor landete, war vor allem seinem eigentlichen Job, dem des Polizisten zu verdanken. In Schleswig-Holstein und Hamburg hatte er sich 2002 für einen Ausbildungsplatz beworben, in der Hansestadt erhielt er eine Zusage. „Mein Fokus lag immer auf dem normalen Job. Ich hatte die romantische Vorstellung, in Hamburg kann ich von der Kreisklasse bis zur Bundesliga alles spielen. Da müsste es ja mit dem Teufel zugehen, wenn ich nichts finde.“

Als wohl letzter Profifußballer Deutschlands ging der inzwischen 34-Jährige als Halbtagskommissar während seiner gesamten Laufbahn einem weiteren Job nach. Zunächst, um ein sicheres Standbein zu haben, sollte die Sportlerkarriere misslingen. „Irgendwann war ich dann an dem Punkt, wo es auch nicht mehr gelohnt hätte, aufzuhören“, sagt er. Jahrelang schob er auf der Wache 17 in Rotherbaum Dienst, seit 2013 ist er Oberkommissar beim LKA . „Vielleicht hat mich diese Doppelbelastung ein Jahr meiner Karriere gekostet“, erklärt er, „aber ich habe mir nie Sorgen um einen neuen Vertrag bei St. Pauli machen müssen, brauchte nie Existenznöte haben, weil ich immer einen Job gehabt hätte. Ich werde nie ins Dschungelcamp gehen müssen.“

Morgens zum Training, anschließend an den Schreibtisch – zwölf Jahre lang Alltag für Boll:

„Ich musste meine Urlaubstage dazu benutzen, um ins Trainingslager zu fahren, meine Überstunden aufbrauchen, wenn wir Montagabend gespielt haben. Es gehörte viel Verzicht und gutes Zeitmanagement dazu. Den Trainingsplan gibt es meist eine Woche vorher, Vernehmungstermine bei der Polizei muss man schon zwei Wochen vorher planen. Wenn dienstags frei sein sollte, ich alle Termine dorthin gelegt hatte und wir sonntags verloren, der Trainer den freien Tag strich, musste ich alles über den Haufen werfen.“

Auch nach der Karriere wird er Polizei und St. Pauli wohl erhalten bleiben. Über die Weiterbeschäftigung beim Kiezclub im Jugendbereich laufen Gespräche, Boll will Trainerscheine machen. „In fünf Jahren übernehme ich den Bums hier“, scherzt er. Seinem Herzensclub, dem er im Februar 1995 bei einem 2:0 über Hansa Rostock erstmals als Fan von der Nordtribüne aus zugejubelt hatte, hat er lebenslängliche Treue geschworen. Schon während der Polizei-Ausbildung gab es Wechselangebote, zum Beispiel von Werder Bremen. Doch Boll lehnte ab, so wie er es bei allen Anfragen immer tun sollte. Egal ob Bristol City oder Hoffenheim mit Lieblingstrainer Holger Stanislawski – Boll verhandelte erst gar nicht.

„So weit ist es nie gekommen. Ich habe mich nie mit einem anderen Verein über Zahlen unterhalten. Ich habe immer die Rechnung aufgestellt: Bei St. Pauli haben wir 30.000 Zuschauer, da vielleicht nur die Hälfte – äh, nein! Wenn man dieses Erlebnis bei St. Pauli mitgemacht hat, ist es schwer, sich auf etwas anderes einzustellen. Das war mir kein großer Gehaltsscheck wert. Auch als Stani aus Hoffenheim angefragt hatte, war das keine echte Option. Das wäre ein absoluter Stilbruch gewesen.“

Am 11. Oktober soll Boll noch einmal eine besondere Ehre zuteil werden. Als zweiter Spieler der Vereinsgeschichte nach Stanislawski wird er am Millerntor ein Abschiedsspiel bekommen. Anschließend wird dieses sagenumwobene St.-Pauli-Gefühl aus dem Team vorerst weitgehend verschwinden und nur noch auf den Rängen gelebt werden. „Das ist sicher wieder ein kleiner Nullpunkt“, glaubt auch Boll.

Der FC St. Pauli – ohne ihn nur noch ein normaler Fußballclub?

„Nein, die Jungs müssen nun auch ihre eigene Geschichte schreiben. Letztlich kamen wir alle genauso unbefangen zum Verein. Die ganzen Egers und Lechners sind auch nicht gleich im ersten Jahr in den Fanladen gerannt. Ich hoffe, dass sich hier auch ein paar Jungs herauskristallisieren, die mehr sehen, als nur den reinen Fußball und auf die Fans mit einem offenen Ohr zugehen. Das hat immer die Power für St. Pauli ausgemacht.“

Als Boll kürzlich im vorletzten Heimspiel seiner Karriere von Trainer Roland Vrabec aus sportlichen Gründen – er hatte wegen einer Knieverletzung seit dem 29. September 2013 pausieren müssen – nicht berücksichtigt worden war, ging ein Aufschrei durch Viertel und Stadion. „Undank ist der Welten Lohn“, schrieben die Fans auf Plakaten. Nur eine Aussprache inklusive öffentlicher Entschuldigung des Trainers konnte den Sturm der Entrüstung bremsen. „Dieses Lebensgefühl St. Pauli war eben auch immer, dass du mal Entscheidungen fernab der Realität triffst“, weiß Boll: „Hier werden rationale Beweggründe in den Hintergrund gedrängt. Ich hoffe, dass sich der Verein dies beibehält.“

Ein weiterer Wunsch wird zum Abschied noch in Erfüllung gehen. In einem Interview mit dem Abendblatt hatte Boll 2012 erklärt, er wünsche sich zwei, bis drei Kinder, das erste solle ihn noch im Stadion spielen sehen. Ehefrau Alexandra wird am Sonntag erstmals mit der zehn Monate alten Tochter auf der Tribüne Platz nehmen.