Für St. Paulis Roland Vrabec steht im Auswärtsspiel bei 1860 München die nächste Bewährungsprobe an. Vrabec beweist in diesen Wochen bei seinen Entscheidungen ein gutes Händchen.

Hamburg. Roland Vrabec stand minutenlang einfach da. Die bunten Hütchen hatte er bereits quer über den Platz verteilt und damit Parcours abgesteckt. Gedankenversunken und die Mütze tief ins Gesicht gezogen ging er im Morgennebel an der Kollaustraße die folgende Einheit offensichtlich schon einmal im Kopf durch. Die Profis des FC St. Pauli absolvierten zu dieser Zeit noch eine koordinative Einheit im Inneren des Trainingszentrums. St. Paulis „Cheftrainer auf Bewährung“ wartete derweil auf dem Rasen. „In den Raum klatschen lassen“, „schneller in die Tiefe“, „geile Lösung, Okan“ – lautstark und mit gestenreichen Bewegungen sollte der 39 Jahre alte Vrabec später das Training seines Teams vor dem Auswärtsspiel bei 1860 München, das an diesem Montagabend (20.15 Uhr, Sky und Sport1 live) stattfindet, leiten.

Es ist immer wieder spannend zu verfolgen, welche Übungen und Trainingsformen sich Vrabec für die täglichen Einheiten ausdenkt. Bisweilen erklärt er seinen Spielern den Ablauf mehrere Minuten lang, was keineswegs an der mangelnden Verständnisfähigkeit seiner Eleven liegt. Es sind schlicht neue Übungen, die die Profis so bisher nicht kannten, somit für Abwechslung im sonst oft gleichförmigen Trainingsalltag sorgen und auch eine erhöhte Aufmerksamkeit erfordern. Beim 0:3 gegen den 1. FC Köln, der bisher einzigen Niederlage unter seiner Regie als „Cheftrainer auf Bewährung“, hatte Vrabec zum Beispiel in der Chancenverwertung und im Umschaltverhalten nach eigenen Ballverlusten ausgemacht. In einer Trainingslektion ließ er ein paar Tage später prompt beides gleichzeitig üben. Erst durften jeweils vier Spieler nacheinander frei auf das Tor schießen, mussten dann bis auf die Torlinie vorrücken, sich um 180 Grad drehen und sich sofort einem mit Ball heranstürmenden Quartett als Defensivspieler entgegenstellen.

Zufall oder nicht: Beim folgenden Spiel in Aue war die Chancenverwertung insbesondere in der ersten Halbzeit erheblich besser. Dabei erzielte Fin Bartels aus vollem Lauf mit links ein Traumtor zur frühen 1:0-Führung. „Er wird den Ball sicherlich nicht jedes Mal so optimal treffen. Aber vielleicht haben ja die Torabschlussübungen an den Tagen zuvor ein klein wenig dazu beigetragen, dass er in dieser Situation überhaupt den Mut hatte, direkt auf das Tor zu schießen“, sagte Vrabec später und konnte zufrieden feststellen, dass auch das defensive Umschaltverhalten seines Teams wieder besser als im Heimspiel gegen Köln war. Neben den beiden genannten Problemen, die auf einem guten Weg scheinen, überwunden zu werden, spricht Vrabec in erfreulicher Offenheit ein paar weitere Baustellen seines Teams an, die es auszumerzen gilt. „Wir haben bei Standardsituationen in der Defensive und in der Offensive noch großes Potenzial“, formuliert es der Trainer auf seine Weise. Da ist zum einen die hohe Zahl der Gegentore, die nach ruhenden Bällen fallen. Dazu kommen etliche weitere brenzlige Situationen, wenn der Gegner den Ball als Ecke oder Freistoß unbedrängt in den St.-Pauli-Strafraum schlagen kann. „Wir haben da Probleme, egal, ob wir wie am Saisonanfang mit Raumdeckung oder jetzt mit Manndeckung bei diesen Situationen spielen“, sagt Vrabec. „In Aue sind wir praktisch nur bei gegnerischen Standardsituationen in Gefahr geraten.“

Gleiches droht nun auch an diesem Montag in München. Die Mannschaft des TSV 1860 gehört zu den Teams, die eigene Ecken und Freistöße am erfolgreichsten in Treffer ummünzen. Als besonders torgefährlich hat sich in den vergangenen vier Partien Dominik Stahl erwiesen. In jedem dieser Spiele erzielte der Mittelfeldspieler einen Treffer und verhalf so seinem Team zum Erfolg. „Nach vier Siegen in Folge wird 1860 mit sehr, sehr viel Selbstvertrauen antreten“, sagt Vrabec und erwartet ein „Spiel auf hohem Niveau“.

Wie unverkrampft Roland Vrabec mit seinem persönlichen Schwebezustand umgeht, zeigt sein Mut zu überraschenden Personalentscheidungen. Ein Trainer, der noch in der Probezeit arbeitet und um lieber auf Nummer sicher gehen will statt etwas zu wagen, wäre nicht auf die Idee gekommen, einem 19 Jahre alten Stürmer wie Michael Gregoritsch ausgerechnet im Auswärtsspiel bei einem wegen seiner Kampfkraft gefürchteten Gegner wie Erzgebirge Aue den ersten Startelfeinsatz zu schenken. Doch Vrabec zieht durch, wovon er aufgrund seiner Eindrücke überzeugt ist. In diesem Fall hatte er ein gestiegenes Selbstvertrauen Gregoritsch’ durch Erfolgserlebnisse im Training und Treffer in der österreichischen U21-Auswahl registriert. Dass Gregoritsch in Aue prompt sein erstes Zweitligator erzielte, passte ins Bild.

Vrabec beweist in diesen Wochen bei seinen Entscheidungen ein gutes Händchen. Manches, was gelingt, mag auch Zufall und Glück sein, aber allein die feste Überzeugung, richtig zu handeln, kann ja auch schon viel bewirken.

Auf jeden Fall weiß Vrabec auch, was seiner Mannschaft derzeit auf dem Spielfeld fehlt. „Wir haben keinen Führungsspieler, der auch von sich aus auf dem Spielfeld Probleme erkennt und entsprechende Anweisungen gibt“, sagte er kürzlich. Kapitän Fabian Boll wäre so ein Typ, doch er arbeitet nach seinem Innenbandriss noch hart für sein Comeback nach der Winterpause.

Derzeit spricht fast alles dafür, dass Vrabec dann als „richtiger“ Cheftrainer arbeiten darf. Nach dem Heimspiel am kommenden Freitag gegen den Karlsruher SC sollen die entscheidenden Gespräche geführt und die Entscheidung getroffen werden. Voraussichtlich erhält der ebenso akribische wie mutige Trainer dann einen Vertrag bis 2015.