Sven Brux, Sicherheitschef beim Kiezclub, spricht über die Stimmung am Millerntor und den Wandel innerhalb der Anhängerschaft. Der Geist aus den Achtzigern ist teilweise verloren gegangen, sagt er.

Hamburg. Wie viel altes Millerntor steckt noch im neuen Stadion? Einer, der das gut beurteilen kann, ist Sven Brux, 47. 1989 wurde der ehemalige Punker mit einer ABM-Maßnahme als Fanbeauftragter des FC St. Pauli eingestellt. Seit 1999 ist er Sicherheitschef und dafür verantwortlich, dass bei den Spielen niemand zu Schaden kommt. Er fühlt sich als „Linker“, ist aber im Laufe der Jahre mehr „Realo“ geworden.

Hamburger Abendblatt: Was war der FC St. Pauli 1987 für ein Verein?

Sven Brux: Ich kam damals aus der Nähe von Köln zum Zivildienst nach Hamburg. Da waren sie gerade wieder auf dem aufsteigenden Ast nach Lizenzentzug und Amateurliga und verpassten nur knapp den Erstliga-Aufstieg. Weil beim HSV damals viele Rechtsradikale waren wie eigentlich überall im Lande, wandten sich viele Leute da ab und entdeckten den FC St. Pauli als angenehme Variante. Davor waren ja nur 3000 Zuschauer am Millerntor gewesen. Jetzt war hier Aufbruchstimmung. Besonders für Leute, die einer Subkultur angehörten wie ich als Punker.

War der FC St. Pauli nicht bis dahin ein normaler Arbeiterverein?

Brux: Es gab jedenfalls noch viele Leute, die im Hafen arbeiteten. Einer von der Fanzeitschrift MillerntorRoar, der jetzt in Berlin ein hohes Tier bei der Bild- Zeitung ist, der kam zu den Redaktionssitzungen aus der Schicht im Hafen. Damals gab es im Radio immer die Ansage so um 5.45 Uhr, dass Leute zur Frühschicht im Hafen gesucht wurden. Da wurden noch Säcke geschleppt.

Diese Arbeitsplätze wurden weniger.

Brux: Stimmt. Und bald kam das neue Publikum. Zwar gab es auch noch Millieutypen mit Pelzmantel, aber aus der Zeit stammt auch das Zitat von dem Banker neben dem Punker.

So wurde zum Gegenentwurf zum Fußball-Kapitalismus aufgebaut. Underdog, provisorisch, englisch – diese Begriffe wurden mit dem Club in Verbindung gebracht. Sind die neuen Fans aus der linken Szene auch deshalb gekommen?

Brux: Das Umfeld des Millerntorstadions entwickelte damals zum alternativen Viertel, weil viele Wohnungen in schlechtem Zustand frei wurden und Leute anzogen, die sich nur billige Unterkünfte leisten konnten. Viele, die vorher aus politischen Gründen nicht mehr zu Fußball gingen, merkten, dass man hier seinen Spaß haben konnte. Dort gab es keine Nazis. Dem Ganzen lag aber kein Plan zugrunde nach dem Motto: Gehen wir mal zum FC St. Pauli und machen da die Weltrevolution.

Was haben Sie am alten Stadion am meisten geliebt?

Brux: Toll war die Nähe zum Platz. Wir standen in der Mitte der Gegengerade direkt hinter den Trainerbänken. Die direkte Interaktion war möglich, Trainer Helmut Schulte stand nur zwei Meter entfernt. Es war eine Mannschaft zum Anfassen, die man hinterher im Clubheim traf. Der Charme des Unprofessionellen betörte uns, da wurde auch gekifft. Man konnte eine ordentliche Party feiern. Das kaputte Stadion passte zum Stadtteil der damaligen Zeit.

Bald hatten die Fans ihre erste Auseinandersetzung mit dem damaligen Präsidenten Heinz Weisener. Der wollte ein neues Stadion bauen.

Brux: Der Startpunkt war die Auseinandersetzung um den „Sport Dome“. Weisener wollte mit kanadischen Investoren einen Komplex mit Hotel und einem Congress-Zentrums bauen. Plötzlich gab es Demos, was es im Zusammenhang mit Fußball nie gegeben hatte. Für uns aus der linken Szene war das ja etwas ganz Normales.

Warum hat es der Architekt Weisener nicht hingekriegt, wohl aber mit Corny Littmann ein Nachfolger?

Brux: Weiseners Projekt wäre ein klassisches Stadion gewesen mit vielen Sitzplätzen, wie es sie inzwischen zuhauf gibt. Die Ablehnung dieser Pläne war einhellig über unsere Szene hinaus. Auch die Hafenarbeiter und Nordkurventypen haben sich angeschlossen.

Littmann bekam es hin, obwohl der Club ja damals nur in der dritten Liga spielte.

Brux: Es war klar, dass hier schleunigst irgendwas gebaut werden musste, weil alles auseinanderbrach. Die Sicherheitsrichtlinien wurden immer schärfer, weil es einige Unglücke in Stadien gab. Littmann hat sich um die Kreditabsicherung gekümmert. Und er versprach 15.000 Stehplätze in einem 30.000-Mann-Stadion.

Fortschritte zu machen ohne Sachen aufzugeben, die einem wichtig sind, ist wahrscheinlich das Schwerste.

Brux: Wir reden ja beim FC St. Pauli von einer Fanszene, die sich irgendwie als links begreift. Und doch sind sie konservative Gewohnheitstiere. Ich stehe schon immer hier, genau auf diesem Platz. Und wenn nicht der Ordner, den ich seit 20 Jahren kenne, mir die Karte abreißt, stimmt hier was nicht.

Es gab auch heftige Auseinandersetzungen. Die sogenannten Sozialromantiker und die Ultras warfen den Haupttribünen- Besuchern und den Logen-Besitzern vor, die Mannschaft nicht richtig anzufeuern. Die wiederum fanden die neue Fan-Generation auch nicht prickelnd.

Brux: Irgendwo muss das Geld ja herkommen, wenn wir mitspielen wollen im Konzert der Ersten und Zweiten Liga und die Eintrittspreise gemäßigt halten wollen. Wir wollen keinen Hopp, keinen Scheich, keinen Kühne – ich denke, da sind sich alle einig. Wenn man die Business-Seat-Besucher einmal anschaut, sind dabei viele, die eine normale Fan-Historie haben. Die als Lachsbrot-Fresser verunglimpften Leute machen in ihren Logen kaum Geschäfte.

Es gibt viele, die sagen, die Anfeuerung war früher Kreativer. Heute sitzt jemand auf dem Zaun und gibt den Takt vor.

Brux: Ich bin mit der typischen englischen Fankultur aufgewachsen, die uns fasziniert hat. Jeder Zeitraum hat aber seine Fankultur. Von den Leuten, die am lautstärksten kritisieren, kommt ja selber nichts. Auch damals waren es immer dieselben, die die Gesänge intonierten. Nur wenn eine bekannte Stimme loslegte, setzten alle ein – das sind Gesetzmäßigkeiten der Fankurve.

Sie sind also ein Befürworter des Neuen?

Brux: Die Gegengerade hatte irgendwann ihren Zenit überschritten. Die Stimmung war zum Grausen, wir lebten nur noch von einem Mythos. Nicht umsonst wurde 1997 die Singing Area eingeführt. Das war der Vorläufer der heutigen Taktgeber. Da kamen erste italienische Einflüsse rein, fünf Jahre später wurde die USP gegründet. Selbst der stärkste Ultra-Kritiker kann nicht abstreiten, dass die Stimmung wieder gut geworden ist. Man kann darüber streiten, ob man 90 Minuten durchsingen muss und man mehr spielbezogenen, spontanen Support macht. Aber wer macht, bestimmt. Und an den Choreographien gibt es nichts auszusetzen.

Was unterscheidet den St. Pauli-Fan noch von anderen Fans?

Brux: Das, was uns Ende der Achtziger von anderen Fans unterschieden hat, ist zum Teil verloren gegangen. Wir waren die Ersten, die mit Ironie als Stilmittel gearbeitet haben, mit Selbstverarschung, mit englischem Humor und antifaschistischem Grund-Konsens. Viele Fanszenen haben sich uns angenähert, unsere Fans den anderen, inklusive einiger negativer Dinge.

Zum Beispiel?

Brux: Übertriebenes Revierdenken, es darf keiner einen anderen Schal tragen, teilweise eher niveauarme Gesänge wie „Scheiß HSV“. Auch wir haben mittlerweile Gruppen, die gern mal die körperliche Auseinandersetzung suchen. Das will ich nicht verhehlen.

Was unternehmen Sie als Sicherheitsbeauftragter?

Brux: Manchmal müssen auch wir Maßnahmen bis zum Repressiven durchsetzen, also bis zum Stadionverbot.

Wie viel ist in diesem neuen Stadion ist noch drin vom alten FC St. Pauli?

Brux: Es passt sehr gut und ist ein klassisches, englisches Stadion. Eng am Spielfeld, vier einzelne Tribünen, bis auf die geschlossene Ecke mit der Kita. Das ist stimmungsmäßig ein Hammer.

Was ist noch „alt“?

Brux: Die Eigenheiten haben sich rübergerettet. Das Ganze ist nicht steril, es ist bunt geworden, auch mit politischen Aussagen. Zum Beispiel „Kein Fußball für die Faschisten“ steht da auf 80 Metern. Da geht der Verein einen mutigen Weg. Er nimmt die Leute mit.

Was ist denn für Sie das Spiel aller Spiele – wohl nicht das 2:1 gegen Bayern 2002?

Brux: Nein, es war keine Begegnung mit den Bayern. Das emotionalste Spiel war gegen Oberhausen im Mai 2000. Mit dem Tor von Marcus Marin in der letzten Sekunde sind wir nicht aus der Zweiten Liga abgestiegen. Es war eine emotionale Berg- und Talfahrt. In einem Moment bist du weg, alle fangen an zu heulen. Ich dachte: Wenn wir absteigen, musst du als Fanbeauftragter am Montag schon zum Arbeitsamt. Und dann schießt Marin das Tor und du bist aus Arbeitslosigkeit und totalem Endzeitszenario plötzlich wieder da.

Jörg Marwedel, 58, war von 1982-85 und 1990-91 beim Abendblatt. Heute ist er Korrespondent Sport der SZ