Serie: Wie der heutige U23-Trainer des FC St. Pauli 2002 mit seinem Treffer den Weg zum Sieg über Weltpokalsieger FC Bayern München ebnete

Hamburg. Augenblicke, die eine Karriere prägen. Orte, die man nicht vergisst. Das Abendblatt bat 15 Sportstars, an Hamburger Stätten großer Momente zurückzukehren und sich dort an ihre Vergangenheit zu erinnern. Die Serienteile lesen Sie bis Anfang September wöchentlich an dieser Stelle.

Die bewusste Szene kann Thomas Meggle heute noch so exakt schildern, als wäre sie gestern passiert, oder als hätte er sie sich gerade noch einmal im Fernsehen angeschaut. „Es war eine Kontersituation, Bajramovic schickt Rath auf die Reise, ich weiß, dass der Harry seine Flanken immer relativ schnell in den Strafraum spielt. In diesem Fall ist es aber gar keine Flanke sondern eher ein Flachpass. Der Ball kommt optimal, um sich gut drehen zu können. Mit links nehme ich den Ball an, drehe mich und schiebe den Ball mit rechts ein“, erzählt Meggle und blickt dabei im Millerntorstadion auf die Nordtribüne. Genau dort vor dem letzten noch vorhandenen Relikt des damaligen Millerntor-Stadions war es passiert. „In dem Moment war es gerade ein perfekter Ablauf. Sonst wäre es auch viel schwieriger gewesen, den Ball zu platzieren. Aber so war es die schnellste Drehung meines Lebens. Eigentlich gehörte ja Beweglichkeit nicht gerade zu meinen Stärken“, sagt Meggle weiter über dieses eine Tor, an das sich viele St.-Pauli-Fans heute noch gern erinnern und das für Thomas Meggle selbst ein Höhepunkt seiner sportlichen Karriere darstellen sollte.

Es ist der 6. Februar 2002, ein Flutlichtspiel im Millerntorstadion, der FC St. Pauli steckt knapp neun Monate nach dem völlig unerwarteten, und umso mehr umjubelten Aufstieg in die Erste Bundesliga mit einer Low-Budget-Truppe wieder einmal im Abstiegskampf. Die Vorfreude der Anhänger auf das Heimspiel gegen den FC Bayern München gründet sich eher in der Gelegenheit, die beste Vereinsmannschaft der Welt einmal hautnah erleben zu können, und zwar in keiner der großen Betonschüsseln dieser Republik sondern im damals schon baufälligen, aber eben ganz speziellen, liebenswerten Millerntorstadion.

Die Punkte gegen den drohenden Abstieg werde sich der FC St. Pauli irgendwo anders, am besten gegen direkte Konkurrenten holen müssen. Gerade einmal zwölf Zähler hatte die Mannschaft von Trainer Dietmar Demuth in 20 Saisonspielen zusammengekratzt, drei Tage zuvor hatte es mit dem 0:1 beim Hansa Rostock den nächsten Nackenschlag gegeben. Und gerade jetzt kamen die Bayern, der amtierende Champions-League-Sieger, der sich gerade auch den Weltpokal gesichert hatte. Werde man die Niederlage in Grenzen halten können, oder untergehen gegen die Startruppe?

Doch dann kommt eben alles ganz anders. Die Bayern versuchen mit einem Schuss Lässigkeit die Pflichtaufgabe über die Bühne zu bringen. Und mit jeder Minute, die vergeht, fassen die Spieler des FC St. Pauli mehr Mut.

Sie trauen sich etwas zu, wollen nicht nur Spalier stehen. Plötzlich kracht der Ball an die Latte des von Oliver Kahn gehüteten Tores. Abgefeuert wurde er von Thomas Meggle – mit links aus mehr als 25 Metern. „Danach schauten mich die Mitspieler völlig ungläubig an. Sie konnten es nicht fassen, dass ich mit meinem schwachen Fuß so schießen kann“, erzählt Meggle. „Ich habe dann aber genauso verwirrt zurück geschaut und mit den Achseln gezuckt. Ich hatte mich ja selbst ein bisschen darüber erschrocken, wie ich überhaupt auf die Idee kommen konnte, aus so großer Entfernung und dann auch noch mit links auf das gegnerische Tor zu schießen. Sonst konnte mit links gerade 18,50 Meter weit schießen.“

Aber es war eben ein besonderer Abend, an diesem 6. Februar. „In der Kabine hatten wir vor dem Spiel schon das Gefühl, dass etwas in der Luft lag, dass etwas gehen könnte“, sagt Meggle. Und so war der Lattenschuss eben nicht diese eine Chance, die man gegen die Bayern hat, ehe sie dann selbst zuschlagen. Nein, es kam ganz anders. Meggle trifft, wie er so perfekt beschreibt, nach Vorarbeit von Zlatan Bajramovic und Marcel „Harry“ Rath in der 30. Minute zum 1:0.

Nur drei Minuten später erhöht Nico Patschinski, ebenfalls auf Vorlage von Rath, zum 2:0. Die Fans im mit 20.735 Zuschauern ausverkauften Stadion reiben sich verdutzt die Augen. Die Bayern mit ihren Stars wie Stefan Effenberg, Claudio Pizarro und auch dem heutigen HSV-Trainer Thorsten Fink haben sich den Schneid abkaufen lassen. Auch die Einwechslung von Mehmet Scholl bringt keine Änderung, der späte Anschlusstreffer von Willy Sagnol bringt nur kurz noch einmal Spannung ins Spiel, ehe Schiedsrichter Helmut Krug abpfeift.

„Nach dem Spiel hatten wir natürlich über den Sieg und die drei Punkte gefreut. Aber keiner von uns hatte realisiert, was wir da draußen eigentlich geleistet haben. Das war ja das Kuriose. Wir haben schon wieder an das nächste Spiel gedacht. Das Schlimme im Profifußball ist, dass man immer von Woche zu Woche denkt. In diesem Fall war es ja sogar eine englische Woche, schon drei Tage später stand schon wieder das Auswärtsspiel bei Schalke 04 auf dem Programm“, erzählt Meggle. „Wir dachten also, es gibt den üblichen Ablauf. Eine kurze Ehrenrunde, zwei Bier, drei Kippen, dann bei Bubu (Zeugwart Claus Bubke, die Red.) ins Entmüdungsbecken, in die Küche zu Brigitte und dann schon wieder aufs Schalke-Spiel vorbereiten.“ Keiner unter den Spielern habe damals auch nur geahnt, dass dieser Sieg solche Wellen schlagen würde und dann auch noch auf einem T-Shirt mit der Aufschrift „Weltpokalsiegerbesieger“ verewigt werden würde.

Auf der Rückseite dieses Textils wurden dann auch die Namen verewigt, die am Erfolg unmittelbar beteiligt waren. Meggle, Patschinski, Stanislawski, Trulsen, Bajramovic und Rahn stehen dort, na klar. Aber auch Spieler, die der heutige St.-Pauli-Anhänger fast schon vergessen hat wie Berre, Kovalenko, Henzler und Gibbs, gehörten damals dazu, dann auch noch Kientz, Baris und der schon erwähnte Rath.

Natürlich hat Thomas Meggle heute noch regelmäßig Kontakt zu den langjährigen St. Paulianern. „Vor allem zu den Spielern, mit denen wir damals den Aufstieg geschafft haben, gibt es einen engeren Draht“, sagt er. Und dann gibt es immer mal wieder einige Zufälle. „Kovalenko habe ich getroffen, als ich mal meine Reha in den USA machte. Und Berre spielte Jahre später mit Valerenga Oslo hier in Hamburg. Da habe ich ihn natürlich getroffen. Es ist verrückt, aber im Fußball trifft man sich wirklich immer zweimal“, so Meggle.

Der historische Sieg über den Weltpokalsieger leitete bekanntlich nicht die große Aufholjagd in der Bundesliga ein. Schon drei Tage später setzte es mit dem 0:4 bei Schalke 04 die nächste bittere Pleite. War am Ende sogar dieser eine große Triumph der Auslöser für die diversen folgenden Enttäuschungen und am Ende den Abstieg? „Überhaupt nicht“, sagt Meggle. „Wir haben in der Saison einfach in zu vielen Spielen, in denen wir überlegen waren, nur Unentschieden gespielt. Die Punkte fehlten uns am Ende.“ Tatsächlich gab es zehnmal eine Punkteteilung, der Sieg über die Bayern war nur einer von insgesamt vier Erfolgen.

In Kürze wird Thomas Meggle als neuer Cheftrainer der U23-Mannschaft die Spieler zum Trainingsauftakt begrüßen. Viele sind erst 20 Jahre alt oder gar jünger. Sie werden kaum eine Erinnerung daran haben, was ihr Übungsleiter gut elf Jahre zuvor vollbracht hat.