Binnen 18 Minuten verwandelt ein furios aufspielender FC St. Pauli das 0:2 gegen 1860 München in ein 4:2. Millerntor war Tollhaus.

Hamburg. Die 24 487 Zuschauer am ausverkauften Millerntor nutzten die zweiminütige Nachspielzeit für Standing Ovations. Euphorisiert wurde der Schlusspfiff herbeigeklatscht. Einige schüttelten immer noch grinsend den Kopf, nicht fassend, was sie an diesem Sonntag erlebt hatten. Andere Tribünengäste erzählten wild gestikulierend noch einmal ausgewählte Spielszenen nach, so als wäre der Nebenmann gar nicht dabei gewesen. Bereits bevor das denkwürdige und phasenweise hochklassige Spiel ihres FC St. Pauli beendet war, musste der 4:2-Sieg gegen den TSV 1860 München verarbeitet werden. Als der gute Schiedsrichter Babak Rafati tatsächlich in seine Pfeife blies und zum Mittelkreis deutete, wandelte sich der monotone Klatschrhythmus in einen unkoordinierten Jubelorkan, der die Ränge durchwirbelte, während die Münchner Spieler im satten Grün Wurzeln geschlagen zu haben schienen und verzweifelt versuchten zu realisieren, was da gerade über sie hereingebrochen war.

Anders als zuvor im Spiel, in dem die Münchner mit einem unnötigen Foulelfmeter und einem unglücklichen Eigentor Schindlers mit 2:0 geführt hatten, konnten sie diesmal keine Hilfe vom Gegner erwarten. Auch St. Paulis Spieler taten sich schwer, die eigene Leistung zu fassen. Innerhalb von nur 18 Minuten hatten die Braun-Weißen aus dem Zwei-Tore-Rückstand einen Zwei-Tore-Vorsprung gemacht. Mit spielerischer Klasse, läuferischer Stärke und viel Esprit schufen die kombinationsfreudigen Hamburger nach passabler, aber eben glückloser erster Hälfte und ungeachtet des erneuten Rückschlags direkt nach Wiederanpfiff eine atemberaubende Drucksituation. Angeführt von Max Kruse, Marius Ebbers, Fin Bartels, Kevin Schindler und Florian Bruns degradierte die Mannschaft die Löwen für 30 Minuten zu Statisten und versetzte den eigenen Anhang in einen Vollrausch. Immer heftiger schaukelten sich Fans und Profis gegenseitig hoch - für die Maurer-Elf eine fatale Wechselwirkung.

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"Wir mussten da ganz schön aufpassen, unsere Ordnung zu behalten", berichtete ein immer noch aufgeputschter Sebastian Schachten, der nur eine Minute nach Ebbers' 1:2, dem ersten Stürmertor seit fast sieben Monaten, den Ausgleich erzielt hatte, "unglaublich, was hier heute passiert ist. So eine zweite Halbzeit habe ich noch nie erlebt." Was die Kollegen gern bestätigten. "Ich dachte, ich hätte im Fußball schon alles erlebt", stammelte Philipp Tschauner mit weit aufgerissenen Augen im Stakkato, "aber da wurde ich heute eines Besseren belehrt. Da war alles dabei. Von A bis Z und mehr. Die Fans waren nach dem 0:2 noch lauter als vorher und haben uns unglaublich angetrieben. So etwas wie hier gibt es nirgendwo sonst. Das ist der FC St. Pauli, das ist eine super Mannschaft, einfach hammermäßig, der Wahnsinn. Nach dem 4:2 war ich kurz weggetreten." Die Fans - nicht die einzige Extremerfahrung für den Torhüter im Spiel gegen die ehemaligen Kollegen: "Mein Körper war noch nie so verkrampft wie heute. Die Psyche, die Anspannung und dann dieser Spielverlauf, wo du dich fragst: Wieso liegen wir hier eigentlich 0:2 hinten?" Um die Krämpfe zu lösen, schluckte der 25-Jährige auf dem Feld Magnesiumtabletten und half in der Schlussphase durch starke Reflexe mit, im vierten Heimspiel den vierten Sieg einzufahren.

St. Pauli bleibt Tabellenzweiter, hält Kurs auf die Bundesliga und hat drei Punkte mehr auf dem Konto als zum gleichen Zeitpunkt in der Aufstiegssaison 2009/10. Wie gegen Aachen und in Bochum dokumentierte die Mannschaft von André Schubert ein schier unerschütterliches Vertrauen in die eigenen Qualitäten und siegte trotz Rückstand mit einem Schlussakkord des erneut begeisternden Kruse. "Sensationell, weltklasse", adelte Bartels den Sololauf seines Kollegen beim 4:2 und grinste: "Aber man darf ihn nicht zu viel loben, sonst schwebt er davon."

Abheben ist bei den Hamburgern verboten. Die Spieler traten im Anschluss an den Vollgas-Fußball die Euphoriebremse "Die 90 Minuten waren gut für die Moral", so Schachten, "aber auch dieser Sieg ist nur drei Punkte wert." Der Trainer schlug noch tiefer in die Kerbe: "Wir haben gerade in der Schlussphase viel zu viele Chancen zugelassen", sagte Schubert und blieb überraschend nüchtern: "Ich bin in den 18 Minuten nicht so mitgerissen worden, denn ich war noch traurig, dass wir uns in der ersten Halbzeit nicht belohnen konnten, und hatte Angst, dass die Jungs den Glauben verlieren. Ich war jedenfalls nicht im Rausch." Schubert auf Entzug. Er dürfte an diesem Nachmittag der Einzige gewesen sein.