St. Paulis Führungsriege über die Verrohung der Sitten in deutschen Stadien und mögliche Lösungsansätze

Hamburg. Der Becherwurf brachte den FC St. Pauli jüngst in die Schlagzeilen. Am 1. April hatte ein Business-Seat-Inhaber am Millerntor einen Schiedsrichter-Assistenten mit einem vollen Bierbecher in den Nacken getroffen und dafür gesorgt, dass die Partie gegen Schalke 04 abgebrochen wurde. Das heutige Heimspiel gegen Bremen drohte unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen zu werden. Nun, da das Sportgericht die Strafe zu einer Platzsperre mit Teilausschluss modifizierte und in die kommende Saison verlegte, nimmt die Vereinsspitze um Aufsichtsratschef Christoph Kröger, Präsident Stefan Orth und Vize Bernd-Georg Spies den Vorfall zum Anlass, das Verhalten aller Beteiligten im Kosmos Profifußball zu hinterfragen.

Hamburger Abendblatt:

Welche Lehren haben Sie aus den Diskussionen um den Spielabbruch gezogen?

Stefan Orth:

Wir sind in die Diskussion mit dem DFB gegangen, um eine Lösung zu finden und nicht ein einfaches Pauschalurteil zum Schaden der Fans ohne nachzudenken hinzunehmen.

Christoph Kröger:

Und um das Thema öffentlich voranzubringen, das wir - Vereine, Fans, Spieler und Trainer - gemeinsam haben: die Veränderungen im Fußball. Jetzt ist der Moment gekommen, mal darüber nachzudenken. Der Vorfall ist eine Chance, ohne Schuldzuweisungen eine Diskussion auszulösen.

Wie meinen Sie das?

Kröger:

Es muss allen Beteiligten, die da im Rampenlicht stehen, klar sein, dass sie mit allem, was sie tun, Einfluss haben auf Leute, die Geld, Emotionen und Zeit in sie investieren. Wenn man Fans abstrakt als Kunden betrachtet, dann vergisst die Branche gern einmal, nachzuschauen, was der Kunde eigentlich will. Das fängt bei Fernsehanstoßzeiten an. Zeit für eine Zäsur!

Rechtfertigen Sie den Becherwurf ?

Kröger:

Nein, keineswegs. Aber wie kommt es dazu, dass Leute dermaßen über die Stränge schlagen? Jede Gruppe sollte sich mal an die eigene Nase fassen und hinterfragen, was wir alle zusammen die letzten Jahre so getrieben haben, dass solche Dinge vermehrt auftreten und eigentlich immer hemmungsloser miteinander umgegangen wird. Ständig wälzen sich Spieler auf dem Boden, um danach wieder wunderschön weiterzulaufen. Dieses Verhalten hat mit Fairplay und Ethik nichts zu tun. Wir haben Schiedsrichter, die nicht immer unbedingt eine positive Ausstrahlung auf die Gesamtsituation haben.

Bernd-Georg Spies:

Und dann schaue ich mir die Trainerwechsel der letzten Wochen an: Während der Saison von einem Klub zum anderen? In der Wirtschaft gibt es für diese Fälle sechsmonatige Abkühlungsphasen. Es muss Wettbewerbsklauseln geben. Der Trainer nimmt ja auch wettbewerbskritische Informationen mit. Da müssen DFL oder DFB einschreiten.

Kröger:

Diejenigen, die ihr Leben lang da bleiben, wo sie sind, die Fans, müssen das ja auch emotional irgendwie verkraften. Alle sollten mal ein bisschen runterkommen und sich und ihre Rolle im Gesamtszenario hinterfragen.

Fehlende Ethik, mangelnder Respekt - ein reines Fußballproblem?

Spies:

Als ich anfing zum Fußball zu gehen - mein Vater nahm mich in den frühen Sechzigern mit -, waren Leute im Stadion, die alle verschiedene Milieus hatten. Die waren in der Partei organisiert, viele katholisch, alle in der Gewerkschaft. Der Fußball hatte nicht so einen hohen Stellenwert. Diese Milieus haben sich aufgelöst. Krise der Kirche, Krise der Gewerkschaften, Krise der Parteien. Da bekommt der Fußballklub eine ganz neue Bedeutung als Heimat. Da fühle ich mich zu Hause, da teile ich Werte. Ich glaube, dass sich der Fußball dieser gesellschaftspolitischen Bedeutung noch gar nicht bewusst geworden ist. Viele Funktionäre tun, als wäre das kein Thema. Doch was wir im Profifußball veranstalten, ist eminent gesellschaftspolitisch. Deswegen werden die Auseinandersetzungen auch härter.

Kröger:

Bei uns ist das ja längst normal, dass es im Stadion politische Parolen und Statements zu hören und lesen gibt. Und auf einmal geht das woanders auch los. Beim 1. FC Nürnberg haben die Fans Probleme mit ihrem Sponsor, weil er Atomkraft verkauft. Das Thema Stuttgart 21 kommt auch im Fußball immer mehr. Wir sind gerade dabei, dass es sich massiv aufbaut. Müssen wir das verhindern oder müssen wir akzeptieren, dass die Menschen mit den Themen anders umgehen? Dass sich Menschen einbringen ist ja etwas Positives.

Weshalb kommen dann zu einer Mitgliederversammlung im November 2010 nur wenige Hundert Mitglieder?

Kröger:

Eine berechtigte Frage.

Orth:

Tja, aber genau das ist es doch. Da geht es dann um Lösungen, um Orientierungen, um einen Weg. Etwas kaputtreden, etwas negativ finden, das ist leicht. Aber etwas nach vorne zu denken, einen gemeinsamen Weg zu finden, ist dann noch mal etwas ganz anderes.

Spies:

Wenn nur drei Prozent der Mitglieder zur JHV kommen, auf der das Präsidium gewählt wird, muss ich mir überlegen, ob ich andere Formen der Teilhabe finde. Briefwahl? Voting im Internet? Auch da müssen wir jetzt Kreativität nachweisen.

Müsste es nicht gerade dem FC St. Pauli gelingen, derartige Strömungen in vernünftige, sinnvolle Bahnen zu lenken?

Kröger:

Natürlich. Wir haben in dieser Situation den großen Vorteil, dass wir Erfahrung und Strukturen haben, uns mit den Fans auseinanderzusetzen. Wir sind da gut aufgestellt, jedenfalls wesentlich besser als einige andere Klubs.

Spies:

Im letzten Heimspiel gab es eine selbst organisierte Choreografie von der Haupttribüne. Das ist in Deutschland einzigartig. Ein Heimspiel zuvor gab es die Aktion "Warum gehe ich zu St. Pauli?". Was ist unser Wertekanon, weshalb sind wir eigentlich hier? Das sind ganz kleine Versatzstücke, und genau da müssen wir weitermachen. Wir haben eine Fibel herausgebracht, um Logenbesitzern ein kleines Druckwerk an die Hand zu geben und zu sagen: Lest euch das mal durch. Das macht den Verein so besonders. Dafür stehen wir hier.

Bringt das etwas?

Spies:

Ich habe kein Patentrezept. Ich kann ja nicht alle neuen Zuschauer einer Gehirnwäsche unterziehen. Aber es muss deutlich werden, dass hier ein paar andere Prinzipien gelten. Deshalb ist der Becherwurf so ärgerlich.

Orth:

Wir bauen hier ein Stadion, wir verändern uns infrastrukturell enorm. Lasst uns doch mal zwei, drei Jahre spielen. Dann werden wir da sein, wo wir alle hinwollen. Und wir haben nicht nur eine aktive Fanszene zu akzeptieren, zu vertreten und mit ihr zu diskutieren. Wir müssen alle ins Boot holen.

Spies:

In dieser Saison schien es ja so, als würde es einen Bruch zwischen aktiver Fanszene und Präsidium geben. Ganz unbescheiden glaube ich, dass es in den letzten 100 Jahren dieses Klubs kein Präsidium gegeben hat, das so aktiv mit der Fanszene geredet hat. Wir müssen uns aber überlegen, dass wir den Dialog im Verein mit unseren Anhängern breiter ziehen, denn was im Stadion passiert - Thema Becherwurf -, wird nicht nur durch die aktive Fanszene geprägt. Wir müssen uns andere Dialogformen überlegen. Es ist viel passiert im letzten Jahr. Und jetzt der Becher. Weshalb musste der bei uns fliegen?

Orth:

Und dann auch noch treffen ...

Spies:

Wir scheinen ein Klub zu sein, der solche Ereignisse anzieht, vielleicht dann aber auch offensiver damit umgeht. Es ist St.-Pauli-like, dass wir das nicht als juristisches Spezialproblem der DFB-Sportgerichtsbarkeit ansehen, sondern hier wird ein gesellschaftliches Problem verhandelt, und da müssen wir uns alle Lösungen überlegen.

Bleibt es bei dem Appell, oder gibt es auch konkrete Anleitungen zum gesunderen, besseren Miteinander?

Spies:

Da war der Fokus lange Zeit auf der aktiven Fanszene, speziell der Ultra-Szene. Da sehe ich auch bei uns ein Thema, und da müssen wir auch konsequenter und klarer das Pyro-Thema diskutieren, das ja auch bei unserem Sportgerichtsverfahren immer wieder thematisiert wurde. Ich bin nicht bereit, mit dem Vereinsvermögen pyrotechnische Aktionen zu bezahlen. Wenn Einzelne durch ihre Aktionen Geldstrafen nach sich ziehen, dann müssen die Konsequenzen auch individuell getragen werden. Allerdings ist die Verengung der Gewalt auf die Fanszene nicht mehr hinreichend. Du erlebst hier bei uns und in allen Auswärtsstadien eine Verrohung der Sitten, auch auf den Haupttribünen, auf den Business Seats.

Kröger:

Ein ganz wichtiger Aspekt sind Vorbildfunktionen, vor allem unten auf dem Rasen. Und für viele Zuschauer wird es immer schwieriger, die Ethik noch nachzuvollziehen. Es gab diverse Beispiele, wo Spieler strafrechtliche Handlungen vornehmen und andere Leute beschädigen, aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Bei Fans dagegen wird rigoros durchgegriffen. Völlig zu Recht, klar. Aber man hat eben kein Verhältnis mehr. Ich hoffe, dass alle Bundesligavereine unser Szenario mal für sich durchgespielt haben. Denn Becherwürfe gibt es überall. Und dass einer trifft, kann jeden treffen.