Der Sportpsychologe Werner Mickler spricht über die Hürden vor dem Bundesliga-Aufstieg - und verrät, wie man sie meistert.

Hamburg. Werner Mickler ist Sportpsychologe an der Sporthochschule Köln und bildet im Rahmen des Fußball-Lehrer-Lehrgangs angehende Trainer im Fach Sportpsychologie aus. Im Interview wird deutlich, dass Holger Stanislawski im Trainerlehrgang gut zugehört hat.

Abendblatt: Holger Stanislawski hat den Trainerlehrgang als Jahrgangsbester abgeschlossen. Verfolgen Sie seinen Werdegang?

Mickler: Wir haben uns damals schon häufig ausgetauscht und über viele Dinge diskutiert. Ich habe ihm gesagt, dass ich vor seiner Leistung, auf der einen Seite seine Mannschaft zu trainieren und auf der anderen Seite erfolgreich den Lehrgang zu absolvieren, den Hut ziehe. Man muss aber dem gesamten Trainerstab von St. Pauli ein Kompliment machen. Während des Lehrgangs hat er mit André Trulsen einen Co-Trainer gehabt, auf den er sich tausendprozentig verlassen konnte und der alles genauso umgesetzt hat, wie die Beiden es geplant hatten.

Abendblatt: Als was für einen Menschen haben Sie Holger Staislawski kennen gelernt?

Mickler: Er ist sehr engagiert, sehr interessiert und macht sich viele Gedanken über den Fußball. Vor allem auch über neue Ideen, die zunächst vielleicht ungewöhnlich erscheinen. Er hört sich alles an, setzt sich damit auseinander und bildet sich sein eigenes Urteil. Das schätze ich sehr an ihm.

Abendblatt: Welche Kernpunkte vermitteln sie den angehenden Trainern in ihren Seminaren?

Mickler: Das sind unterschiedliche Bereiche. Wir haben ein Model entwickelt, das sich MUT nennt: Mannschaft, Umfeld, Trainer. Damit wollen wir zeigen, wie umfassend der Tätigkeitsbereich eines Trainers ist. Der Trainer ist ja nicht nur für die Mannschaft, sondern auch für Sponsorenverträge, die Fans und für die richtigen Strukturen im Verein zuständig. Außerdem gehen wir auf die psychologischen Grundlagen ein. Als Trainer muss man sich darauf einstellen, dass bestimmte Situationen von jedem Spieler anders wahrgenommen werden. Insbesondere wenn es um Auf- oder Abstiege geht, ist es wichtig, Stresssituationen richtig einschätzen zu können. Ein weiterer Punkt ist mentales Training, bei dem es darum geht, bestimmte Spielkonzeptionen zu trainieren, ohne auf dem Platz agieren zu müssen. Dazu kommen dann noch solche Sachen wie Motivation, Volition (Willensausbildung), et cetera.

Abendblatt: St. Pauli steht momentan sehr gut da in der Zweiten Liga, hat sieben Punkte Vorsprung auf Platz drei. Trotzdem nimmt niemand das Wort „Aufstieg“ in den Mund. Können Sie erklären warum?

Mickler: Da gibt es sicher mehrere Gründe. Wenn man den Aufstieg als Ziel definiert, wie es zum Beispiel Arminia Bielefeld gemacht hat, dann wird man genau an diesem Ziel gemessen. Wenn es dann mal über längere Zeit Misserfolge gibt und sich herausstellt, dass das Ziel kaum zu erreichen ist, dann macht sich sofort Unruhe breit. Und das will jeder vermeiden. Nehmen sie das Beispiel Hertha BSC in der letzten Saison. Meines Erachtens haben die eine super Saison gespielt, dann haben sie aber acht oder zehn Spieltage vor Schluss gesagt: Wir wollen Meister werden. Dann sind sie an diesem Ziel gemessen worden und die Saison wurde trotz gutem Ergebnis schlecht geredet. Der zweite Punkt ist: Man kann ein Ziel ausgeben, das eine Richtung vorgeben soll, viel wichtiger ist jedoch, den Fokus immer auf die nächste Aufgabe zu richten. Das macht der FC St. Pauli sehr gut. Sie betonen immer wieder: Das nächste Spiel ist das Entscheidende. Es mag zwar wie eine Floskel klingen, aber es macht deutlich, worauf die Aufmerksamkeit gelenkt werden muss. Wenn sie aufsteigen wollen, dann ist das nichts anderes als das Endprodukt von vielen kleinen Zwischenzielen. Und wenn die Mannschaft das richtig abarbeitet, dann haben sie eine große Chance. Wenn sie aber nur an die Aufstiegsfeier denken, können sie ihre Aufmerksamkeit nicht voll auf die bevorstehende Aufgabe, auf das, was kurzfristig beeinflussbar ist, lenken.

Abendblatt: Glauben sie das intern über den Aufstieg gesprochen wird?

Mickler: Es ist eine ganz andere Geschichte, wie jeder Einzelne damit umgeht und sich darüber unterhält. Es aber als Mannschaftsziel nach außen zu kommunizieren erzeugt nur unnötigen Druck.

Abendblatt: Es ist also das probate Mittel den Druck und die Versagensängste von der Mannschaft zu nehmen?

Mickler: Die Frage ist immer: Was hilft es dem Klub, wenn er öffentlich bekundet, dass er aufsteigen will? Hilft es dabei, noch mal alle Kräfte zu bündeln, die Spieler zu motivieren und ihre Leistung noch mal zu steigern? Dann würde ich sagen, mach es. Wenn Stanislawski aber den Eindruck hat, dass es nicht weiterhilft, sondern vielleicht sogar das Gegenteil bewirkt, dann sollte er die Finger davon lassen. Es kommt auf die Mannschaft an. Ich traue Stanislawski und Trulsen zu, dass sie ein super Gefühl für die Mannschaft haben, dass sie genau wissen, was sie braucht und wie man sie führen und leiten muss. Beim FC St. Pauli, der momentan gut spielt, besteht die Notwendigkeit aber nicht.

Abendblatt: Welche Fehler kann der FC St. Pauli in seiner Situation noch machen?

Mickler: Sie dürfen sich nicht auf den deutlichen Vorsprung fokussieren. Das eigentlich Entscheidende ist jetzt, sich auf das nächste Spiel, den nächsten Gegner zu konzentrieren. Es muss den Spielern egal sein, wie die Tabelle aussieht. Die Tabelle ist nur das Produkt von dem was am Wochenende passiert ist. Also ist es der Job des Trainers, immer wieder aufzuzeigen, wo sich die Mannschaft verbessern muss, was umgesetzt werden soll, mit welcher Spielkonzeption gearbeitet wird. Das läuft bei St. Pauli sehr gut. Es lässt sich von außen eine konkrete Spielkonzeption erkennen. Und nur darum geht es. Denn wenn man seine Spielkonzeption umsetzt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich vom Platz zu gehen.

Abendblatt: Angenommen St. Pauli verliert mal zwei oder gar drei Spiele hintereinander…

Mickler: Es ist eigentlich klar, dass irgendwann eine Durststrecke kommt. Das ist ein ganz normaler Prozess. Das Wesentliche ist, den Spielern klar zu machen, dass es niemals von selbst läuft, dass immer Arbeit dahinter steckt. Und es ist wichtig, die Spieler zu beruhigen, ihnen klar zu machen, dass sie trotz Niederlagen das Ziel nicht aus den Augen verlieren dürfen.

Abendblatt: Einige Spieler des FC St. Pauli durften sich berechtigte Hoffnungen auf einen Stammplatz machen, sitzen aber jetzt meist auf der Bank. Trotzdem muckt niemand auf. Wie verhindert man das?

Mickler: Stanislawski muss mit jedem Einzelnen immer wieder den Kontakt suchen, ihm aufzeigen, wo er besser werden soll, um in die Mannschaft zu kommen. Wenn er das schafft, zeigt es, dass er ein wirklich gutes Verhältnis zur Mannschaft hat. Die Erklärungen können auch taktischer Natur sein. Aber genau das ist die hohe Kunst eines Trainers: die Motivation hochzuhalten und klar zumachen, dass der Traum sich nur gemeinsam verwirklichen lässt.

Abendblatt: Was ist – psychologisch gesehen – das Wichtigste in der Endphase der Saison?

Mickler: Ruhe bewahren. Wenn man anfängt verrückt zu spielen, nervös zu werden, dann hat man nicht mehr die Kapazitäten im Kopf frei, um bestimmte Aufgaben lösen zu können. Der Trainer muss seinen Spielern mitgeben, dass sie schon viel erreicht haben, dass sie viele enge Spiele gewonnen haben, ihnen Selbstvertrauen geben. Es geht darum auch in den letzten Spielen alles ganz ruhig genauso abzuarbeiten wie bisher. Es sind Spiele mit dem gleichen Stellenwert wie vorher auch. Und dabei ist entscheidend, dass die Mannschaft ihr System durchzieht.

Abendblatt: Würden Sie jedem Verein empfehlen ein Psychologen einzustellen?

Mickler: Da bin ich sehr ambivalent. Es hängt davon ab, ob die Mannschaft das will. Ein Psychologe kann eine Anlaufstation sein, die vom Verein angeboten wird. Es kommt aber auch auf die Aufgaben des Psychologen an. Ist er nur Anlaufstation oder ist er auch ein Berater des Trainerstabs. Da können Interessen leicht kollidieren, wenn der Psychologe Infos von den Spielern bekommt, die er aber nicht an den Trainer weitergeben darf. Der Trainer erwartet aber die Hilfe, um bestimmte Situationen meistern zu können. Es wäre also wichtig, die Aufgaben genau zu definieren.

Abendblatt: Glauben Sie, dass der FC St. Pauli aufsteigt?

Mickler: Ich glaube schon. Weil eine Struktur und eine spielerische Weiterentwicklung deutlich erkennbar ist. Zum Schluss muss die Mannschaft zeigen, dass sie kritische Situationen – die ganz sicher kommen werden – zu meistern in der Lage ist. Sie werden nicht jedes Spiel gewinnen und müssen beweisen, dass sie die Nerven bewahren können. Und da traue ich Stanislawski und dem FC St. Pauli eine ganze Menge zu.