Mit seiner Agentur Players’ Interests ist Ralf Bockstedte sehr erfolgreich. Zu seinen prominentesten Klienten gehört HSV-Profi Lewis Holtby

Essen. Im Januar 2013 steigt Lewis Holtby in London aus einem Flugzeug und wartet am Ende der Treppe auf seine Begleiter. Sie hatten ihn dann tatsächlich noch bei den Tottenham Hotspurs untergebracht. Sie, das waren sein Berater Marcus Noack, der gerade noch zurück in den Flieger gestürzt war, und der Anwalt und Spielerberater Ralf Bockstedte, der im Inneren der Maschine saß und vor sich hin fluchte. „Es war Winter und wir waren eh schon spät dran. Vor uns lagen Medizincheck, Vertrag, Pressekonferenz, das volle Programm“, erzählt Bockstedte.

Was es nicht einfacher macht: Er sitzt im Rollstuhl. „Dann streikten auch noch die Flughafenmitarbeiter. Ich kam nicht mehr aus der Maschine.“ Lewis Holtby steht auf dem Rollfeld. Als er einen nervösen Blick Richtung Tür wirft, kommt ihm Berater Noack gerade entgegen. Den Anwalt hatte er kurzerhand aus dem Rollstuhl gehoben, jetzt hängt er über seiner Schulter.: „Wir hatten überhaupt keine Zeit, wir mussten weiter“, erklärt der Jurist.

Wir treffen Ralf Bockstedte in seiner Kanzlei in Essen-Dellwig. Der gläserne Fahrstuhl an der Außenfassade fällt sofort auf, er wurde eigens für ihn installiert. Bockstedte greift nach einer großen Tasse. Kleine kann er nicht fassen, seine Feinmotorik macht da nicht mehr mit. Er spricht deutlich, auch wenn seine Sprache gelegentlich ein wenig verwischt, wenn die Kraft der Atemhilfsmuskulatur nachlässt.

Als er etwa drei Jahre alt war, bemerkten seine Eltern, dass er sich seltsam bewegte. Ärzte diagnostizierten, dass sein Rückenmark langsamer wächst als der Rest seines Körpers, eine Krankheit, für die es nicht einmal einen Namen gibt, weil nur 14 Fälle weltweit bekannt sind. Schon als Jugendlicher führte ihn der Schaden am Rückenmark in den Rollstuhl.

Auf seinen Mandanten Lewis Holtby lässt Berater Bockstedte nichts kommen

Manche wären an dieser Krankheit zerbrochen. Ralf Bockstedte nicht. Dafür hat er wohl einfach zu viel Energie. Schon als junger Mann war er rastlos. Kurz vor dem Abitur zog es ihn für ein Jahr ans Seaford-College nach Südengland, dann studierte er in Heidelberg. Nach dem Examen wieder ein Ortswechsel: In einer Kanzlei für Medienrecht kümmerte er sich um australische Stars und Sternchen. „Mit Kylie Minogue tanzte ich in der Silvesternacht auf dem Balkon der Sydney-Oper“, sagt er und lächelt: „Schade, dass ich damals noch so schüchtern war, heute würde ich die Nummer anders angehen.“

Das alles ist vielleicht schon beeindruckend genug, aber für die Wucht seiner Vita muss man die Zeit zurückdrehen und sich vorstellen, wie er mit 17 im Seaford-College am Hügel zum Hauptgebäude stand und nicht wusste, wie er da hochkommen sollte. Seit über einem Jahr saß er da schon im Rollstuhl. „Runter war kein Problem, ich hab auch gerne Mitschüler mitgenommen“, sagt er. „Nach drei Wochen war ich Stammgast in der medizinischen Abteilung und zum Erzfeind der Oberschwester geworden.“

Das Fußballvirus infizierte ihn schon als Kind. Mit sechs Jahren begleitete er seinen Großvater in den VIP-Bereich von Schalke 04. An diesem Abend schenkte ihm Klaus Fischer ein Trikot, von da an war er infiziert. „Ich kickte jeden Tag und jede freie Minute. Und wenn es nicht ging, stellte ich mich halt nur ins Tor.“ An den Tag, an dem sein Rückenmark riss, hat er keine Erinnerung mehr. „Es ist wie bei einem Traumapatienten. Um gesund zu bleiben, vergisst du das Schlimmste.“ Die Diagnose jetzt: inkompletter Querschnitt ohne Fremdeinwirkung. Er ist gerade mal 16, gegen einen Ball wird er von da an nie wieder treten. Aber da ist dieses Virus Fußball. Das bleibt.

„Die Kameradschaft, wahrscheinlich ist es das“, antwortet er, wenn man ihn fragt, was er am Fußball so liebt. „Bei den Spielen der RWE-Traditionsmannschaft holen die Jungs mich in die Kabine. Für sie bin ich einer von ihnen.“ Er wollte trotz Rollstuhl dazugehören, machte weiter wie vorher. Der Fußball hielt ihn am und im Leben, statt auf zwei Beinen jetzt auf vier Rädern. „Wenn ich von da an mit den Jungs um die Häuser zog, ließ ich mir Gurte anlegen, damit ich in der Nacht nicht aus dem Stuhl falle“, erzählt er. „Der Fußball hatte mir bis dahin schon so viel gegeben. Es ist und bleibt der geilste Sport auf der Welt.“

In den vergangenen Jahren kam er dem Fußballgeschäft immer näher. 2008 erwarb er die Spielervermittlerlizenz, gründete Players’ Interests und betreute von da an junge Spieler wie Malik Fathi oder eben Lewis Holtby als Berater oder Jurist. Auf seine Mandanten lässt er nichts kommen. Auch nicht auf Holtby, oft hart kritisiert in seinem ersten HSV-Halbjahr „Lewis hatte bislang 15 Pflichtspieleinsätze für den HSV in dieser Saison. Er wird auch in der Rückrunde für den Bundesliga-Dino Vollgas geben und sich als Teil der Mannschaft mit seiner Qualität für den Klassenerhalt und ein versöhnliches Abschneiden voll ins Zeug legen“, sagt Bockstedte.

„Rollstuhlfahrer sind im Fußball sicher nicht alltäglich“, erzählt Ex-Profi Stefan Blank, Scout in Bockstedtes Team. „Aber wer mit Ralli arbeitet, weiß, dass er immer 100 Prozent gibt. Ralli ist ein Vollgastyp“. 2011 erwarb er als einziger Rollstuhlfahrer die deutsche DFB-Trainer-C-Lizenz. Aber warum macht er das, wo ihm der Fußball doch immerzu aufzeigt, was bei ihm nicht mehr funktioniert?

Eine Antwort darauf kann vielleicht Ingo Anderbrügge geben. Der Schalker Uefa-Cup-Held ist Sportdirektor bei Players’ Interests, daneben betreibt er eine Fußballschule für Kinder. „Ralli hat mal bei uns zu einer Gruppe von Kindern gesprochen“, sagt er. „Er erklärte ihnen, dass es beim Fußball auf den Zusammenhalt ankommt, und sie sich nicht bei jedem Fehlpass anschreien sollen. Und dann sagte er, wie gerne er selber mal wieder einen Fehlpass spielen würde, aber er könne es halt nicht mehr.“

Ralf Bockstedte weiß, dass er auf Unterstützung angewiesen ist. Und hat vielleicht dennoch mehr gewonnen, als man auf den ersten Blick annimmt. Als er gemeinsam mit Anderbrügge nach Valencia reiste, um einen Transfer abzuwickeln, wussten die beiden, dass sich im Stadion eine kleine Kapelle befindet, ganz so wie bei ihrem Club Schalke 04. „Ich sagte zu Ralli, dass ich mit ihm da hineingehen werde, komme, was wolle“, sagt Anderbrügge. Es sind an die fünfzig Stufen bis dort oben, für Bockstedte alleine unmöglich. Aber wer verstehen will, warum der Fußball für Ralf Bockstedte der geilste Sport auf der Welt ist, der muss sich nur vorstellen, wie in diesem Moment Ingo Anderbrügge den Rollstuhl gegriffen hat, um mit seinem Geschäftspartner und Freund Stufe für Stufe zu erklimmen.