Matthias Ostrzolek hat seine Fußballkarriere von der Jugend an geplant. Für ihn ist der HSV die logische nächste Etappe

Theoretisch sind es nur ein paar Schritte. Vielleicht 15 Meter. Vielleicht 20. Im Normalfall braucht man wahrscheinlich fünf bis zehn Sekunden, um es vom umzäunten Trainingsplatz neben der Arena bis zum ebenso umzäunten Treppenaufgang, den nur die Fußballprofis des HSV benutzen dürfen, zu schaffen. Doch was ist heutzutage schon noch normal?

Ganz praktisch brauchte Matthias Ostrzolek nach seinem ersten Training beim HSV am Mittwochvormittag knapp 20 Minuten. „Für Philipp“ solle er doch bitte auf die Karte schreiben, sagte eine ungefähr 16-Jährige und hielt Hamburgs Neuzugang einen schwarzen Filzstift hin. Ein Dreikäsehoch, sechs oder sieben Jahre alt, sagte lieber gar nichts, hielt nur einen schwarzen Stift und ein weißes HSV-Trikot hin. Zwischendurch hier noch ein Foto, da noch ein Selfie. Bitte lächeln, sagte ein Familienvater, und knipste Ostrzolek und seinen strahlenden Filius. Nach einer guten Viertelstunde, als auch der letzte der mehr als 150 wartenden Fans versorgt war, hatte es der dauerlächelnde Neu-Hamburger endlich geschafft. Fürs Erste jedenfalls.

„Das war schon beeindruckend“, sagt Ostrzolek wenig später in einer weißen Stadionloge, „so viele Zuschauer bei einem normalen Training hatten wir in Augsburg noch nie.“ Statt von 150 Anhängern ist der Blondschopf jetzt nur noch von sechs Medienvertretern umrundet. Berater Tobias Sander hat einen Tisch weiter Platz genommen und hört aufmerksam zu. Ab und an nickt er zustimmend mit dem Kopf.

In Hamburg sei alles eine Nummer größer als in Augsburg, sagt Ostrzolek, der für 2,4 Millionen Euro gekommen ist. Zuschauer, Stadion, Medien. Das sei alles eine andere Dimension. „Ich wollte den nächsten Schritt machen“, sagt der 24 Jahre alte Linksverteidiger und schaut zu seinem nickenden Berater, „der HSV ist der nächste Schritt.“

Hertha BSC, Hannover 96 und ein Verein aus England hatten großes Interesse an dem Überflieger der vergangenen Saison, der 33-mal von Anfang an auflief, acht Treffer vorbereitete (Platz eins unter allen Abwehrspielern der Bundesliga) und 113-mal (Platz zwei in der Liga) flankte. Doch trotz der wochenlangen Hängepartie um seinen Wechsel wusste Ostrzolek immer, dass der Schritt zum HSV genau der richtige zum jetzigen Zeitpunkt sei. „Ich habe mich mit meiner Berateragentur zusammengesetzt und habe mir einen genauen Plan für meine Karriere gemacht“, sagt der gebürtige Bochumer, der sogar vom internationalen Fußball spricht, von der Nationalmannschaft und von Zielen, die er irgendwann in seiner Karriere noch erreichen wolle. Doch alles Schritt für Schritt. Und jetzt sei eben Hamburg der richtige Schritt.

„Der HSV ist tatsächlich genau die richtige Etappe auf seinem Weg, der eigentlich stetig nur nach oben führte“, sagt einer, der es wissen muss. Frank „Funny“ Heinemann, der von 2011 bis 2013 beim HSV als Co-Trainer gearbeitet hatte, war es, der das Talent Ostrzoleks als Erster so richtig entdeckt und gefördert hatte. 2010 war das. Heinemann war Nachwuchsleiter beim VfL Bochum, wo er heute wieder als Assistenztrainer von Peter Neururer arbeitet.

„Ich sah ein U23-Spiel von Matthias und war mir sicher, dass er es auch bei den Profis schaffen könnte“, erinnert sich Heinemann, der den damaligen Cheftrainer Friedhelm Funkel umgehend anrief. Nicht mal zwei Wochen später debütierte Ostrzolek bei Bochums Profis – und verpasste bis zum Saisonende nur noch zwei Spiele.

„Man muss den Jungen einfach gut finden“, sagt Heinemann, „er hat einen starken linken Fuß, ist schnell, flankt sehr präzise und ist vor allem sehr klar im Kopf.“ Nach nur einem Jahr bei Bochums Profis in der Zweiten Liga sei es richtig und wichtig für ihn gewesen, den nächsten Schritt zum FC Augsburg in die Bundesliga zu machen. „Er brauchte eine neue Herausforderung. Allerdings was es clever von ihm, sich eine Herausforderung zu suchen, die er auch sofort meistern konnte“, sagt Heinemann, der bis heute regelmäßigen SMS-Kontakt zu seinem früheren Zögling pflegt.

Sehr viel mehr Kontakt hat Ostrzolek sogar noch zu St. Paulis Marc Rzatkowski, der ebenfalls von Heinemann in jungen Jahren entdeckt und gefördert wurde. Gemeinsam haben die beiden Fußballer zunächst ihr Abitur an der Lessingschule in Bochum gemacht, um anschließend ihre Karriere beim VfL zu starten. „Mattes wird dem HSV gut tun“, sagt Rzatkowski, und lobt: „Sportlich hat er eine sehr gute Entwicklung genommen, er hat sich in Augsburg enorm weiterentwickelt. Er hat einen guten Offensivdrang und einen starken linken Fuß.“ Nur einen Haken hätte sein Kumpel, dem er auch nur Gutes über Hamburg erzählt habe: „Jetzt ist er ja eine Rothose, daher kann ich nicht mehr so viel mit ihm machen ...“

Der Konter aus der weißen Stadionloge lässt nicht lange auf sich warten. „Ratsche ist ein wirklich guter Freund von mir“, sagt Ostrzolek, „er spielt nur leider beim falschen Verein.“ Großes Gelächter. Auch Berater Sander lacht.

Ostrzolek selbst ist nun natürlich beim richtigen Verein. Und wieder spricht er vom „wichtigen Schritt“, den er in seiner Karriere nun vollziehen wolle. Sogar die polnische Nationalmannschaft habe bei ihm, dem Deutschpolen, mehrfach nachgefragt. Er wisse eben nur nicht, ob eine Entscheidung für das Land seiner Eltern in diesem Moment der richtige Schritt für ihn sei.

Ob er denn gar keinen Bammel davor habe, sich auf seiner Position beim HSV gegen Nationalspieler Marcell Jansen durchsetzen zu müssen, fragt einer. „Darüber habe ich mir überhaupt keinen Kopf gemacht“, antwortet Ostrzolek wenig überzeugend. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Schrittmacher, der immer jeden Schritt ganz genau überdenkt, sich sehr wohl darüber einen Kopf gemacht hat. Und wohl genauso wahrscheinlich ist, dass er ganz einfach von sich überzeugt ist. Er will beim HSV den nächsten Schritt machen. So einfach ist das.