20.000 HSV-Fans zittern beim Public Viewing in der Imtech Arena – mehr Menschen als im Stadion in Fürth. 1000 St.Paulianer drücken Zweitligaclub vor dem „Knust“ die Daumen

Hamburg. Sie war die einzige, die beim Schlusspfiff am Sonntag um kurz vor 19 Uhr ungerührt blieb. Stoisch lief die Bundesliga-Uhr im Stadion des HSV weiter. Trotz Krimis, trotz Herzschlagfinales. Links und rechts lagen sich wildfremde Menschen in den Armen, flogen Plastikbecher durch die Nordkurve, knallten Böller, weinten Männer. Doch auf der Digitalanzeige, die die Bundesligazugehörigkeit des Vereins dokumentiert, ging alles den gewohnten Gang: 50 Jahre, 267 Tage, eine Stunde, 53 Minuten und 47 Sekunden, 48 Sekunden, 49 Sekunden und so weiter.

Und das ist gut so. Denn diese Ziffern hätten historisch bedeutsame, für Hamburg traurige Zahlen werden können. Doch am Ende waren sie egal und alles andere nur noch großer Jubel. 20.000 Fans, die noch einmal alles, was sich mit einer Raute bedrucken ließ, ins Stadion geschleppt hatten, waren euphorisiert, erleichtert, geschafft, glücklich, traurig, triumphierend, und das alles auf einmal. In der Ersten Liga geblieben. Torwart Drobny der Held des Tages, Lasogga sowieso. Es geht weiter. Die Uhr läuft noch, der Dino lebt.

Dabei waren viele mit dem diffusen Gefühl mulmiger Zuversicht zum größten Public Viewing der HSV-Geschichte angereist. „Ich war angespannt, aber sicher: Wir schaffen das“, sagte Holger Diederichsen, der mit Sohn Sebastian in Block 27 B der Nordkurve Platz nahm. „Zusammenhalten – Klassehalten“-Shirt, viele Zigaretten und ein Beruhigungsbier – die Ausrüstung des Tages. „Das Spiel ist so wichtig. Das Ergebnis ist so wichtig. Für den Verein, für die Stadt. Niemals 2. Liga!“

Lotto King Karl hatte die vollbesetzte Tribüne schon vor Anpfiff gebührend eingeschworen. Fahnen, Gesänge, die Schals nach oben und „Hamburg, meine Perle“ – Heimspielatmosphäre. Die Menge skandierte „Auswärtssieg!“. Und beim 1:0 von Pierre-Michel Lasogga gleich zu Beginn gab es kein Halten mehr. Die Nordkurve in Bestform. Zumal Lotto in der Halbzeit genüsslich feststellte, dass mehr Menschen beim Public Viewing sind als im Stadion in Fürth.

Auch Fritz Reusch und Regina Lindecke aus Eidelstedt waren darunter. Für sie war das Spiel ein Ritt auf der Rasierklinge. „Ich bin mein Leben lang HSV-Fan“, sagte Reuscher erschöpft nach dem Schlusspfiff. „Und jetzt, nachdem es gut gegangen ist, muss was passieren im Verein.“

Die Erschöpfung verdankte er vor allem der zweiten Halbzeit. Nach dem Ausgleichstor der Fürther wurde es fast andächtig still unter den 20.000 Fans im Volkspark. Viele vergruben ihre Gesichter zwischen den Händen, atmeten aufgeregt in ihre Schals und blickten gebannt auf die restliche Spielzeit.

Das Zittern dominierte die letzte halbe Stunde. Jeder Befreiungsschlag wurde wie ein Tor gefeiert, jede Parade von Drobny frenetisch beklatscht. „Die üblichen Fehler“ habe der HSV in der zweiten Halbzeit gemacht, sagt Holger Diederichsen. Zu unsicher, zu ängstlich, zu fehlerbehaftet. Auch wegen des Rückfalls in das alte Zaudern standen in den letzten, nervenaufreibenden drei Minuten der Nachspielzeit alle Fans im Stadion auf. Große, erfreulicherweise friedliche Unterstützung an dem Ort, an dem gar nicht gespielt wurde.

Dementsprechend gewaltig war die Explosion der Emotionen am Schluss. Durch die Stehränge schwappte eine Welle der Begeisterung. Mit feuchten Augen und hohem Puls nahmen es die Fans auf den oberen Tribünen zur Kenntnis. „Ein Herzschlagfinale“, sagte Fritz Reuscher. „Kaum zu fassen, wie spannend das war“, seufzte Holger Diederichsen. Dabei hat es die Stadionuhr vermutlich von Anfang an gewusst. Es geht weiter. Immer weiter.

Ortswechsel. St. Pauli war am Sonntag Fürth. Mehr als 1000 Zuschauer haben sich auf dem Platz vor dem „Knust“ im Karolinenviertel versammelt, Männer, Frauen, einige Kinder. Viele trugen braune oder schwarze St.-Pauli-Kapuzen-Pullver, tranken Bier aus Plastikbechern oder aus der Knolle. Es war eine verkehrte Welt aus HSV-Sicht: Gejubelt wurde, wenn die Fürther aufs HSV-Tor stürmten – und es wurde verzweifelt, wenn die vielen Chancen der Mittelfranken doch wieder verpufften.

Tim, 40, ist St.-Pauli-Fan und sagte: „Wir wollen den HSV absteigen sehen – das ist das Grundthema.“ Die Hoffnung, den HSV verlieren zu sehen, hatten auch andere. „Das ist so arrogant, unbedingt in der Ersten Liga bleiben zu wollen, als ob andere Traditionsclubs nicht auch schon abgestiegen sind“, sagte Student Ole Zimmermann, 28, auch er trug – natürlich – das braune St.-Pauli-Shirt und ist mit vielen gleichgesinnten Freunden gekommen. Er würde lügen, wenn nicht auch Schadenfreude dabei wäre, sagt er. „Im Vordergrund steht aber dass wir heute etwas Historisches erleben wollen.“

Doch zunächst schien es nichts zu werden. Der Führungstreffer des HSV in der ersten Halbzeit machte die Hoffnungen der Hamburger, die Fürth die Daumen drückten, zunichte. „Wir hoffen nun auf die zweite Halbzeit“, sagten Lea, 27, und Elena, 29, beides Ärztinnen und – na klar – St.-Pauli-Fans. Kurz kam Musik-Club-Legende Kalle Roschinsky raus aus dem Knust, wo er nun seit Jahren schon hinterm Tresen steht. „Lasst doch die viele Häme – wir sind doch alle Hamburger“, sagte er.

Als dann der Fürther Gegentreffer gelang, brandete vor dem „Knust“ Jubel auf, als hätte der Kiezclub selbst gerade ein Tor geschossen. Die Stimmung war nun euphorisch. Jeder Vorstoß der Fürther wurde beklatscht. Jubel. Schreie. Erwartungsfrohe Blicke. Zum Schluss wurde es immer lauter, immer näher schien der auf dem Kiez erhoffte Abstieg des HSV. Dann die letzten Möglichkeiten der Fürther. Vergebens, nach dem Schlusspfiff löste sich die Menge auf. „Scheiß HSV, Scheiß HSV“, skandieren einige. Dann ist es vorbei. Und St. Pauli ist wieder St. Pauli, wo am Abend auch wieder HSV-Fans feierten.