Er war 26 Jahre lang Masseur und gute Seele des HSV. Hermann Rieger hat nie einen Treffer für die Rothosen erzielt, ist aber für die Fans immer noch „der beste Mann“ und hat im Verein seinen eigenen Fanclub. Rund um die Uhr war er für die Profis da und gab dem Verein ein sympathisches Gesicht. Am Montag bekommt er bei der Hamburger Sportgala den Ehrenpreis für sein Lebenswerk.

Am Vormittag haben die Ärzte in der Medizinischen Hochschule Hannover bei Hermann Rieger, 72, noch eine Gewebeprobe entnommen. Sie wollen wissen, ob der Krebs, der vor neun Jahren das erste Mal aufgetaucht ist, wieder zurückgekehrt ist in diesen Körper, der immer noch stämmig und kraftvoll daherkommt. Nur ein paar Stunden später erscheint der Kult-Masseur des HSV mit einem fröhlichen Lachen in der großen Cafeteria des Krankenhauses.

Hamburger Abendblatt:

Hermann, wollen wir zuerst über Sie oder über den HSV sprechen?

Hermann Rieger:

Lass uns mit dem HSV doch noch ein bisschen warten.

Also gut, wie geht es Ihnen?

Rieger:

Eigentlich geht es mir gut. Die Ärzte in Hannover haben bei mir eine Biopsie durchgeführt. Sie haben eine Gewebeprobe aus der Lunge entnommen. Und dann schauen wir jetzt mal, welche Diagnose dabei herauskommt. Ich habe ja schon nach den vorherigen Krebsoperationen und den vielen Bestrahlungen immer gesagt: „Ich glaube, dass mir ein Schutzengel hilft. Und ich habe das Gefühl, dass ich immer wieder aufstehe.“ Außerdem habe ich keine Angst vor dem Tod, weil ich glaube, dass danach noch etwas kommt.

Woher kommt dieser Lebensmut?

Rieger:

Ich glaube, das ist in erster Linie eine Frage der Erziehung. Und da habe ich ganz großes Glück gehabt. Meine Eltern waren immer positiv. Und sie waren immer gerecht. Ich habe ihnen alles zu verdanken.

Und Ihrer Mutter ist es zu verdanken, dass Sie überhaupt zum HSV gekommen sind.

Rieger:

Im Grunde ja. Uli Hoeneß hatte mich als Masseur zu den Bayern geholt. Und als bei einem Länderspiel in München DFB-Masseur Erich Deußer ausgefallen ist, hat Bayern-Stürmer Gerd Müller gesagt: „Holt doch den Hermann zum Spiel, der kann uns massieren, der sitzt eh nur in Mittenwald oben in seiner Skihütte.“

So kamen Sie zur Nationalmannschaft.

Rieger:

Ja, aber nur für ein Spiel. Und dann traf ich Manni Kaltz, und der hat zu mir gesagt: „Mensch Hermann, so einen wie dich können wir beim HSV sehr gut gebrauchen.“ Wenig später hat der damalige HSV-Manager Günter Netzer bei mir angefragt. Und ich habe gesagt: „Herr Netzer, dafür brauche ich aber die Freigabe von meiner Mutter.“

Und die hat zugestimmt.

Rieger:

Na ja, sie hat gesagt: „Mach das, Burschi, denn in Hamburg gibt es viele nette Leute.“ Ich habe gesagt: „Du warst doch noch nie in Hamburg, Mutti.“ Und sie hat geantwortet: „Aber die Gäste aus Hamburg, die zu uns nach Mittenwald kommen, die sind alle so nett.“

Sie haben dann beim HSV einen Einjahresvertrag unterschrieben.

Rieger:

Richtig. Und danach nie wieder einen. Ich habe meinen Vertrag dann jedes Mal nur noch per Handschlag verlängert. Jahr für Jahr. Und bin 26 Jahre geblieben.

Um das Gehalt mussten Sie sich nicht kümmern?

Rieger:

Das hat unser Trainer Ernst Happel gemacht. Der ist immer zum Vorstand gegangen und hat gesagt: Leute, der Hermann braucht jetzt mal mehr Geld.

Mit Ernst Happel verband Sie eine richtige Freundschaft?

Rieger:

Ja, das stimmt. Wir mochten uns von Anfang an. In den 1980er-Jahren wurden die Trainingslager des HSV nur nach einem einzigen Kriterium ausgesucht: Sie durften nie weiter als 20 Kilometer von einem Casino entfernt sein. Dort bin ich dann abends mit Ernst Happel hingegangen und habe das Geld von ihm bewacht. Ich habe es in einem Briefumschlag in meiner Hosentasche getragen. Und ich musste immer die Hand auf die Tasche legen, sonst hat der Ernstl böse geguckt.

Wurde damals mehr und härter trainiert als heute?

Rieger:

Aus meiner Sicht auf jeden Fall. Bei Branko Zebec, dem Vorgänger von Ernst Happel, ist mir ein Spieler in der Vorbereitung beim Training fast einmal unter den Händen weggestorben. So hart haben die trainiert. Aber die Arbeit hat sich dann eben auch ausgezahlt. Einer wie Joschi Groh ist damals bestimmt das Doppelte von dem Pensum gelaufen, das die heutigen Spieler zurücklegen. Genau wie Thomas von Heesen, Bernd Wehmeyer, Wolfgang Rolff oder Felix Magath.

Die Generation der letzten großen HSV-Sieger. Was hat diese Mannschaft ausgezeichnet?

Rieger:

Wie schon gesagt, die überragende Fitness. Wenn du die nicht hast, dann fehlen halt im entscheidenden Moment immer ein paar Meter. Außerdem stimmte damals die Hierarchie in der Mannschaft. Horst Hrubesch oder Ditmar Jacobs haben jedem, der nicht ordentlich mitgezogen hat oder der nicht genug gelaufen ist, sofort in den Hintern getreten. Und schließlich der Zusammenhalt. Wenn es eine Mannschaftsfeier gab, dann haben sich nicht die Ersten, so wie das heute oft der Fall ist, nach dem zweiten Getränk schon wieder verabschiedet. Das musste auch niemand von außen anweisen, das war einfach in der Mannschaft drin. Und das war eben auch einer der Gründe – neben der individuellen Klasse der einzelnen Spieler –, warum diese Truppe den Europapokal der Landesmeister, drei deutsche Meisterschaften und einen Pokalsieg feiern konnte. Und auch im Weltpokalfinale stand, das leider verloren ging.

HSV-Manager Günter Netzer hat einmal gesagt, er sei felsenfest davon überzeugt, dass Hermann Rieger genauso viel Anteil an diesen Erfolgen gehabt hat wie die damals aktiven Spieler.

Rieger:

Wenn er das sagt...

...Netzer hat auch gesagt, Hermann Rieger sei sein bester Transfer gewesen.

Rieger:

Das habe ich auch schon mal gehört.

Was hat Ihnen der HSV bedeutet?

Rieger:

Das ist wie eine Familie. Ich hätte nicht einschlafen können, wenn ich gewusst hätte, dass noch ein Spieler meine Hilfe braucht. Manchmal habe ich einen verletzten Profi ja tatsächlich bis zum Wochenende wieder fit gekriegt, obwohl niemand damit rechnete. Da wurde dann halt Tag und Nacht gearbeitet. Und wenn der Spieler dann am Sonnabend auch noch ein Tor geschossen hat, vielleicht sogar das entscheidende, und nach dem Spiel zu mir gekommen ist und sich bedankt hat, war das Gänsehaut pur.

Nach der erfolgreichen Zeit von Branko Zebec und Ernst Happel gab es nicht mehr viel zu feiern.

Rieger:

Das lag vielleicht auch daran, dass nicht mehr so hart gearbeitet wurde.

Warum nicht?

Rieger:

Na ja, nehmen wir zum Beispiel solch einen Trainer wie Josip Skoblar. Der hat zu mir im Trainingslager gleich zu Beginn allen Ernstes gesagt: „Hermann, zum Mittagessen können die Spieler ruhig einen Rotwein trinken.“ Ich konnte das erst nicht glauben. „Doch“, hat er gesagt, „das ist gut.“ Und was passierte? Nach 20 Minuten flogen die Hähnchenbeine durch den Saal. Und das Nachmittagstraining musste ausfallen.

Wird heute vielleicht zu wenig trainiert?

Rieger:

Ja, guck dir doch die Statistik an! Die beweist doch, dass unsere Spieler in jeder Partie weniger laufen als der Gegner.

Was läuft schief beim HSV?

Rieger:

Das fragen mich die Leute auf der Straße auch immer. Und ich muss jetzt leider mal schimpfen. Unsere Spieler sind zu faul. Sie bleiben stehen, wenn sie den Ball verlieren. Und die Abwehr ist löchrig wie ein Schweizer Käse – überall soooo große Löcher. Außerdem fehlt in der Mannschaft die Hierarchie. Ohne die geht es nicht.

Was muss passieren?

Rieger:

Ich glaube, das ist keine Frage der Qualität, sondern eine Frage der Einstellung. Die müssen jetzt ganz eng zusammenrücken. Alle. Und der Trainer muss sich einbringen.

Sie wurden einmal beschrieben als „Symbol für den Verein, das nicht von Marketingabteilungen gemacht wurde, sondern das die Fans sich selbst gesucht haben“. Sie haben einen eigenen Fanclub, er ist mit 734 Mitgliedern der größte im Verein. Es gibt eine CD über Sie, auf der Sie selbst singen. Und das Maskottchen, der Dino, trägt Ihren Namen. Wie erklären Sie sich Ihre Popularität?

Rieger:

Ich habe mir darüber nie groß Gedanken gemacht. Vielleicht ist das der Grund. Ich bin nur immer offen und fröhlich auf jeden Menschen zugegangen. Ich kann nur sagen, dass ich immer noch eine Gänsehaut kriege, wenn wildfremde Menschen auf mich zukommen und mir nur einmal die Hand reichen wollen. Und wenn sie mir in Hamburg oder im Stadion begegnen und sich nach meinem Befinden erkundigen. Da hat meine Mutter absolut recht behalten. Die Menschen in Hamburg sind wirklich außerordentlich nett.

Vermissen Sie die Berge denn gar nicht?

Rieger:

Nein. Oder sagen wir lieber, nur wenn Schnee drauf liegt. Aber Skifahren kann ich jetzt ja auch hier oben.

Wo denn das?

Rieger:

Im Snow Dome in Bispingen. Dort bringe ich Kindern das Skifahren bei. Und weil die Piste nicht so anspruchsvoll ist, lernen die Kinder das Fahren auf den Brettern auch ganz schnell.

Ist Hamburg inzwischen Ihre Heimat?

Rieger:

Ja, auch wenn ich jetzt in Alfstedt bei Bremervörde wohne. Aber ich bin noch so oft in der Stadt, sie ist so schön, das ist wirklich meine Heimat.

Und nun bekommen Sie für Ihre Arbeit in dieser Stadt beim HSV den Preis für Ihr Lebenswerk. Was bedeutet Ihnen das?

Rieger:

Das ist für mich genauso bedeutend wie die Triumphe mit dem HSV. Das ist eine ganz große Ehre für mich und zeigt mir, dass ich in den 26 Jahren in Hamburg irgendetwas richtig gemacht haben muss. Der Preis wird in meiner Vitrine einen Ehrenplatz bekommen. Und mich immer an die schönste Zeit in meinem Leben erinnern.

Wie sehr leiden Sie momentan?

Rieger:

Das ist schon nicht einfach. Aber ich bin und bleibe HSVer – das kannst du ja nicht einfach ablegen. Umso schwerer ist es gerade.

Was können die Fans tun?

Rieger:

Wenn man sieht, wie die Mannschaft im Augenblick auftritt, können einem die Fans wirklich leidtun. Es ist nicht leicht, HSV-Fan zu sein. Gewalt ist allerdings nie ein Mittel. Das geht überhaupt nicht. Und eines mag ich auch nicht besonders: wenn die Mannschaft schlecht spielt und die Fans singen „Außer Hermann könnt ihr alle gehen“. Das tut weh. Und es hilft vor allem den jungen Spielern überhaupt nicht. Gerade die Spieler, die nicht so viel Erfahrung haben, brauchen jetzt unsere ganze Unterstützung. Wir müssen ihnen helfen.

Wie schlimm wäre ein Abstieg des HSV?

Rieger:

Wir standen ja schon einmal ganz nahe am Abgrund. Das war 1997, als zwei Spieltage vor Abschluss der Saison Felix Magath als Trainer nach einem 0:4 gegen Köln entlassen wurde. Mit dem damaligen Trainer der Amateure, Ralf Scheer, schafften wir in den letzten beiden Spielen noch den Klassenerhalt. Ich kann mir einen HSV in der Zweiten Liga nicht vorstellen. Der Dino darf nicht sterben.