Selten setzte der HSV auf derart viele Youngster wie derzeit. Nur drei Teams hatten am Wochenende eine jüngere Startelf auf dem Platz

Hamburg. Der Anruf, der aus einem guten Arbeitstag einen sehr guten machte, kam am späten Sonntagabend. „Mein Papa rief mich an und sagte, dass er mich noch nie so gut gesehen hat wie gegen Stuttgart“, sagte Hakan Calhanoglu, der sich der Bedeutung des Lobes auch noch am Morgen nach dem begeisternden 3:3 gegen den VfB bewusst war: „Mein Vater ist normalerweise mein strengster Kritiker, viel strenger noch als unser Trainer. Aber diesmal war er rundum zufrieden.“

Hüseyin Calhanoglu, der die Partie des Sohnemanns vom heimischen Sofa aus verfolgt hatte, war mit seiner positiven Manöverkritik nach dem Fußballspektakel am Sonntag jedenfalls nicht allein. Besonders die Tatsache, dass neben Calhanoglu, 19, mit Jonathan Tah, 17, Tolgay Arslan, 23, Maximilian Beister, 23, und Pierre-Michel Lasogga, 21, gleich fünf Youngster zu den Protagonisten des Stuttgart-Schauspiels gehörten, ließ die ohnehin stolz geschwellte Brust der Hamburger weiter wachsen.

„Bei uns stimmt derzeit die Balance zwischen Jung und Alt“, sagte Sportchef Oliver Kreuzer, kurz nachdem er direkt im Anschluss an das Vormittagstraining Calhanoglu noch mal väterlich in den Arm nahm, beherzt drückte und tätschelte. „Aber besonders froh macht mich, dass wir so viele junge Spieler dabei haben, die noch ein enormes Entwicklungspotenzial haben. Dieser Kader hat Perspektive.“

Tatsächlich war die von Trainer Bert van Marwijk ausgesuchte erste Elf gegen den VfB mit einem Durchschnittsalter von 24,3 Jahren die viertjüngste Startformation der Liga am vergangenen Wochenende (siehe Tabelle rechts). Nur Schalke (23,8 Jahre), Hoffenheim (23,5) und der kommende Gegner aus Freiburg (23,3) setzten auf noch jüngere Spieler. „Unser Trainer hat schon immer betont, dass er keine Unterschiede zwischen einem 17-und einem 27-Jährigen macht. Bei ihm geht es nur nach Leistung“, sagte Kreuzer, der sich nach einigen Sekunden des Nachdenkens dann aber genötigt sah, die eigene Aussage zu präzisieren: „Gerade für unsere jüngeren Spieler ist es wichtig, dass sie dieses Urvertrauen des Trainers spüren. Sie wissen, dass sie auch mal einen Fehler machen dürfen.“

Und Fehler wurden am Sonntag auch im Spiel gegen den VfB wieder reichlich gemacht. Beim ersten Gegentor patzte Teenager Tah gleich doppelt, beim dritten VfB-Treffer vergaß der ansonsten bärenstarke Beister auf der verwaisten rechten Seite für den Moment seine Defensivaufgaben. Doch anders als früher lassen sich die Youngster von den eigenen Fehlern nicht mehr verunsichern – ganz im Gegenteil. „Rafael van der Vaart ist nach dem 0:1 und dem 1:2 sofort zu mir gelaufen und hat mir gesagt, dass wir das noch schaffen. Das hat mich unheimlich motiviert“, sagt Calhanoglu, der somit auch Arslans Einschätzung vom Vortag stützte: „Unsere erfahrenen Führungsspieler nehmen uns mit, aber sie geben auch ein Stück Führung ab, was wir Jungen dankend annehmen und dann auf dem Platz umsetzen wollen.“

Aushängeschild der Generation Frühreif ist selbstverständlich Abwehr-Talent Tah, der mit 17 Jahren, acht Monaten und elf Tagen nach Stuttgarts Timo Werner (17 Jahre, sieben Monate und 16 Tage) und dem ebenfalls in Hamburg ausgebildeten und im Sommer zu Bayer Leverkusen gewechselten Levin Öztunali (17 Jahre, sieben Monate und sieben Tage) der drittjüngste Profi und sogar der jüngste Stammspieler der Liga ist. „Seine Abgeklärtheit ist außergewöhnlich“, lobt van Marwijk, der als HSV-Trainer noch keine Sekunde auf den Youngster verzichtet hat.

Neben dem Mut, auf die noch unerfahrenen Nachwuchsspieler zu setzen, führt Kreuzer aber auch die Arbeit der oft geschmähten Nachwuchsabteilung als wichtiges Puzzleteil für die plötzliche Verjüngung an. „In unserem Nachwuchs wird seit Jahren gute Arbeit gemacht. Es ist doch kein Zufall, dass in vielen Vereinen in der Bundesliga bei uns ausgebildete Profis spielen. Das Problem ist viel mehr, dass in der Vergangenheit zu wenig auf unsere Eigengewächse gesetzt wurde“, sagt Kreuzer. Mit Tah, Beister und Zhi Gin Lam, 22, konnten sich in dieser Spielzeit dagegen gleich drei beim HSV ausgebildete Talente im Profikader durchsetzen. So ist es auch kein Wunder, dass der Altersdurchschnitt des HSV-Kaders, der in der Saison 2010/11 mit 28,4 Jahren noch der älteste der Liga war, mittlerweile mit 25,0 Jahren im Ligavergleich auf Rang sechs (siehe rechts) kletterte.

Wie groß insbesondere beim HSV die Hoffnung ist, dass der „Jugendwahn“ eine dauerhafte Entwicklung ist, veranschaulicht auch die Titelgeschichte des Vereinsmagazins „Live“, die den Eigengewächsen Tah, Beister und Lam gewidmet ist. Und dass Eigengewächse im Profikader zuletzt eine echte Rarität waren, zeigt besonders der zweite Absatz der Titelgeschichte. Dort heißt es: „In der nahen Vergangenheit war Piotr Trochowski stets das Aushängeschild der HSV-Nachwuchsarbeit…“ Das Problem: Trochowski wurde vom FC St. Pauli und dem FC Bayern ausgebildet.