Seit Wochen wird beim HSV kontrovers über das zu erwartende Minus debattiert. Das Abendblatt dokumentiert, wie die Finanzlage wirklich ist.

Hamburg. Am Montagabend wurde es wieder mal so richtig festlich rund um den HSV. Bei der 20. Hamburg-Soirée im Luxushotel Vier Jahreszeiten traf sich alles mit Rang und Namen. Während als Horsd'œuvre gegrilltes Lachssteak und Grüner-Spargel-Salat mit Babymozzarella gereicht wurden, erzählten Ex-Manager Günter Netzer und Uwe Seeler gern gehörte Anekdoten aus den guten alten Zeiten. HSV-Chef Carl Jarchow und seine Vorstandskollegen Joachim Hilke und Oliver Scheel hörten zu, Aufsichtsrat Jürgen Hunke, die früheren Kontrolleure Horst Becker und Ian Karan waren vor Ort, und auch Philipp Hasenbein, Chef von Vermarkter Sportfive, nutzte die dritte Halbzeit nach dem offiziellen Teil zum einen oder anderen Plausch. Gutes Essen, gute Gespräche, gute Laune.

So harmonisch, wie es am Montag wirkte, ist die Stimmungslage beim HSV allerdings nicht. Bereits vor dem letzten Spieltag wird hinter den Kulissen kontrovers darüber diskutiert, ob man die Saison unabhängig vom Ausgang des Endspiels um Europa gegen Leverkusen als "sehr ordentlich" (Jarchow) oder sogar als "insgesamt gut" (Trainer Thorsten Fink) bewerten kann. Viel mehr als das sportliche Abschneiden, das durch ein kleines Fußballwunder am Wochenende tatsächlich noch Platz sechs bereithalten könnte, wird aber seit knapp einer Woche unerbittlich über die wirkliche Dramatik der Vereinsfinanzen gestritten. Auslöser war ein Bericht von NDR 90,3, der das aktuelle Millionenloch, das seit Monaten von nahezu allen Medien mit mehr als 20 Millionen Euro beziffert wurde, auf - Stand jetzt - 24 Millionen Euro konkretisierte. Eine Summe, die beim sonst besonnenen Vereinschef Jarchow wütendes Kopfschütteln auslöste. Diese Zahl habe mit der Wirklichkeit so gar nichts zu tun, schimpfte der Vorstandsvorsitzende, das laufende Geschäftsjahr werde man mit einem einstelligen Millionenminus abschließen.

Nun stellt sich die Frage, warum der Vereinschef vor ziemlich genau einen Monat auf die Frage nach einem drohenden Minus von 20 Millionen Euro, im Abendblatt-Interview geantwortet hatte: "(...) auch ich gehe von einem Minus in zweistelliger Millionenhöhe aus." Der Grund ist simpel und komplex zugleich: Nach Abendblatt-Recherchen wurde das vor der Saison nicht kalkulierte Millionenminus in einer aktuellen Gewinn- und Verlustrechnung, die dem Aufsichtsrat vorliegt, tatsächlich mit knapp 24 Millionen Euro angegeben. Grund sind fehlende Erlöse aus dem VIP-Bereich (2,4 Millionen Euro), weniger TV-Einnahmen durch einen durchschnittlichen Tabellenplatz elf statt zehn (600.000 Euro), fehlende Erlöse aus Transfers und eingesparten Gehältern (rund 5,5 Millionen Euro), fehlende Zuschauereinnahmen und vor allem die Ablösesummen und Gehälter der Lastminute-Transfers von Rafael van der Vaart und Petr Jiracek.

Berücksichtigt werden muss nur, dass im Falle van der Vaarts, der 13 Millionen Euro gekostet hat, nicht mal die Hälfte der Ablösesumme in diesem Geschäftsjahr fällig war. Der Hauptteil von acht Millionen Euro muss an Milliardär Klaus-Michael Kühne erst in den kommenden Jahren zurückgezahlt werden. Unterm Strich bleibt - Stand heute - dennoch ein Fehlbetrag von knapp 24 Millionen Euro.

Aufsichtsrat lehnte Sportfive-Papier ab

Jarchows verschiedene Angaben vom April ("Minus in zweistelliger Millionenhöhe") und von jetzt ("einstelliges Minus") haben einen Grund: Schon damals war Vorstandskollege Hilke in intensiven Gesprächen mit Vermarkter Sportfive über eine vorzeitige Verlängerung des 2015 auslaufenden Vertrags, durch die das Rekordminus des laufenden Geschäftsjahrs eingedämmt werden sollte. Das Problem: Ein erstes Arbeitspapier stieß beim Aufsichtsrat - vorsichtig formuliert - nicht gerade auf Begeisterung. Hilke und Jarchow wurden aufgefordert, ein besseres Verhandlungsergebnis mit Sportfive anzustreben. Da die Gespräche mit dem Vermarkter, der bestens um die finanziellen Sorgen des HSV wusste, stockten, wurden auch wenig populäre Alternativpläne überdacht.

So wurde sogar ein Szenario durchgespielt, nach dem man aus finanzieller Not das Stadion verkauft, um es mit einer festgeschriebenen Rückkaufklausel zunächst weiter zu mieten. Sale-and-Lease-Back wurde das Modell neudeutsch genannt. Und obwohl derartige Gedankenspiele bei finanziell angespannten Unternehmen unüblich sind, ist man zur Überzeugung gekommen, dass ein entsprechendes Vorhaben in der traditionell kritischen HSV-Mitgliedschaft schwer vermittelbar wäre.

Mittlerweile, und das erklärt Jarchows Offensive der vergangenen Tage, sollen sich Sportfive und der HSV erheblich angenähert haben. Auch der Vermarkter scheint ein Interesse daran zu haben, seinen nach Borussia Dortmund wichtigsten Kunden nicht verlieren zu wollen. Wie das Abendblatt erfuhr, soll den Kontrolleuren am 30. Mai jetzt ein Fünf-Jahres-Vertrag präsentiert werden, nach dem Sportfive dem HSV das 2015 fällige Darlehen über 12,4 Millionen Euro erlässt.

Ebenfalls wahrscheinlich ist, dass Sportfive auf den Anteil der TV-Vermarktung aus dieser Saison nachträglich verzichten wird, was weitere fünf Millionen Euro einbringen würde, zudem wird ein sogenanntes Signing Fee - also eine Art Vorauszahlung - von Sportfive in Millionenhöhe erwartet. Gewissheit über die genauen Zahlen gibt es allerdings erst am 30. Mai, bis dahin wollen die Beteiligten keine Summen öffentlich kommentieren.

Klar ist aber schon jetzt, dass eine sehr wahrscheinliche Verlängerung mit Sportfive nur aufgrund des in diesen Dimensionen nicht für möglich gehaltenen Minus erfolgt. Denn eigentlich wollte Jarchow die Vermarkterprovisionen einsparen. Noch im Januar hatte er erklärt: "Unsere Bestrebung ist, dass wir ab 2015 den Hauptteil unserer Vermarktung selbst übernehmen."

Und auch die viel zitierten "Altlasten", die immer als Begründung für die finanzielle Schieflage angeführt werden, können keine Entschuldigung sein. Zwar musste der HSV noch in dieser Saison 6,1 Millionen Euro für alte Transfers - etwa eine letzte Rate von 1,5 Millionen Euro für Gojko Kacar an Hertha BSC und kurioserweise sogar 1,6 Millionen Euro für van der Vaart an dessen Heimatverein Ajax Amsterdam - aus der Ära Bernd Hoffmanns abstottern, allerdings sind Transfers mit Ratenzahlungen auch unter dem neuen Vorstand üblich. Beispiel hierfür ist der erneute Kauf van der Vaarts.

Letztlich dürfte Jarchow mit seiner Einschätzung, dass der zu erwartende Fehlbetrag des laufenden Geschäftsjahres nach einem Minus von 4,9 Millionen Euro vor zwei Jahren und 6,607 Millionen Euro im Vorjahr auch in dieser Saison im "überschaubaren" Bereich bleibt, nach einer Sportfive-Verlängerung recht behalten. Der Preis aber ist hoch. Wie hoch genau, darüber lässt auch sich weiterhin trefflich streiten.