Der frühere Manager Günter Netzer spricht über Versäumnisse der Hamburger, den Guardiola-Transfer und die DFB-Elf.

Frankfurt am Main . Um 17.29 Uhr öffnet sich die Tür des gläsernen Fahrstuhls des Hilton-Hotels in Frankfurt. Günter Netzer, 68, schreitet durch die Lobby - wie immer die Pünktlichkeit in Person. Eine Stunde spricht der frühere Weltstar und erfolgreichste Manager der HSV-Geschichte über seinen ehemaligen Arbeitgeber und erklärt auch, warum er 2010 nicht für den Aufsichtsrat der Hamburger kandidieren wollte.

Hamburger Abendblatt: Herr Netzer, wie sehr fiebern Sie noch mit Ihrem ehemaligen Arbeitgeber mit, wenn der HSV in Nürnberg in die Rückrunde startet?

Günter Netzer: Ich bin all meinen früheren Clubs sehr verbunden. Borussia Mönchengladbach, meine Wurzeln, meine Heimat, wo alles begann - fußballerisch die schönste Zeit in meinem Leben. Real Madrid, wo ich den Mythos dieses Giganten miterleben durfte. Grasshoppers Zürich, mein letzter Verein als aktiver Fußballer, die Stadt, die jetzt unser Lebensmittelpunkt ist. Und natürlich dem HSV. Meine Zeit als Manager war ein Traum. Drei Meistertitel, drei Europapokal-Endspiele, der Europapokalsieg 1983 - mehr geht nicht.

Sie hätten ja zum HSV zurückkehren können. Der frühere HSV-Vorstandschef Bernd Hoffmann wollte Sie 2010 zu einer Aufsichtsrats-Kandidatur überreden.

Netzer: Er ist sogar extra nach Zürich gekommen, was ich ihm hoch anrechne. Aber ich habe solche Angebote immer abgelehnt. Ich bin ein konsequenter Mensch, der eine einmal getroffene Lebensentscheidung nicht einfach revidiert. Die Jahre als Manager beim HSV haben alle Energie aus mir abgesaugt. Ich weiß noch, wie ich Ende Mai 1983 die Fotos unserer großen Feier an der Moorweide für den Europapokalsieg und die Meisterschaft sah. Alle freuten sich - und ich sehe bemitleidenswert aus. Nein, es wäre völlig falsch gewesen, hier wieder anknüpfen zu wollen.

Sie hätten aber genau für das gestanden, was dem HSV-Aufsichtsrat so sehr fehlt: sportliche Kompetenz.

Netzer: Aber es hätte nicht gepasst. Ich bin nicht geeignet, Mitglied eines elfköpfigen Gremiums zu sein, das ohne die nötige Fachkompetenz zentrale Entscheidungen treffen soll. Ich bin keiner, der sich gern ausbremsen lässt. Schauen Sie, in allen erfolgreichen Vereinen geben nur wenige Leute die Richtung an, treffen dann klare und zügige Entscheidungen, für die sie auch dann geradestehen. Wenn in meiner HSV-Zeit der Trainer und ich als Manager von einem Spieler überzeugt waren, haben wir gehandelt - natürlich immer im Einverständnis mit dem Präsidenten.

Hat der HSV also in erster Linie ein Strukturproblem?

Netzer: Nein, das wäre ja auch zu einfach. Dann müsste man ja nur die Strukturen ändern, und der Erfolg wäre da. Der HSV hat leider in der Vergangenheit versäumt, wesentliche Dinge rechtzeitig zu installieren. Etwa in der Nachwuchsarbeit. Wir hatten damals auch kein großes Talentprogramm. Aber wir haben dann die richtigen fertigen Spieler geholt, die einfach gepasst haben. Ich kann beim HSV seit Jahren kein schlüssiges Konzept erkennen. Viel zu oft wurde einfach der Trainer gewechselt. Es gibt keine Kontinuität. Wissen Sie, was eine meiner Stärken ist?

Sagen Sie es uns.

Netzer: Ich habe immer darauf geachtet, dass ich mich mit Leuten umgebe, die in ihrem Teilbereich besser sind als ich. Deshalb habe ich auch nur mit starken Trainern zusammengearbeitet, mit einem Ernst Happel, mit Branko Zebec.

Was macht Ihnen Hoffnung, dass der HSV noch einmal an die große Zeit der Netzer-Ära anknüpfen kann?

Netzer: Die Voraussetzungen dieses Vereins. Hamburg hat ein wunderschönes Stadion, großartige Fans und vor allem eine Stadt mit hochkarätigen Leuten aus der Wirtschaft, die bereit sind, in den Fußball zu investieren. Natürlich haben die Bayern und die Dortmunder inzwischen einen großen Vorsprung. Aber dann muss man doch endlich anfangen, diesen aufzuholen. Der HSV hat jedenfalls jetzt Bedingungen, von denen ich damals nur geträumt habe.

Wirklich?

Netzer: Schauen Sie sich doch nur die Zuschauerzahlen 1982/83 an. Wir sind damals Meister und Europapokalsieger geworden. Und trotzdem hatten wir nicht mal 29.000 Fans im Schnitt, nur einmal war der Volkspark ausverkauft. Und wenn ich bei den reichen Hamburger Herrschaften um Sponsorverträge verhandeln wollte, hieß es nur: Herr Netzer, hinaus, hinaus. Der Fußball war im Gegensatz zu heute gesellschaftlich überhaupt nicht verankert.

In welche Dimensionen die Liga vorgestoßen ist, kann man an der Verpflichtung von Pep Guardiola durch den FC Bayern sehen. Was sagen Sie dazu?

Netzer: Ich habe bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass das Wirklichkeit wird. So hoch siedele ich an, was den Bayern da gelungen ist. Die Führung kann nicht genug dafür gelobt werden, dass sie auf diesem Weg versucht, den Verein in eine noch höhere Dimension zu führen. Das ist mit einem Trainer dieser Klasse besser möglich als mit großen Transfers.

Herr Netzer, lassen Sie uns über die Nationalmannschaft reden. Zu Ihrer Zeit spielte die Nationalelf schön und gewann Titel, jetzt spielt sie schön, gewinnt aber nichts. Was läuft da falsch?

Netzer: Mit diesen generationenübergreifenden Vergleichen kann ich nichts anfangen. Als wir 1972 diesen großartigen Fußball spielten, gab es eine EM-Endrunde mit vier Mannschaften. 2016 bei der EM werden es 24 Teams sein. Das ist ein völlig anderes Turnier.

Aber es ist doch auffallend, dass die deutsche Mannschaft versagt, wenn es wirklich darauf ankommt.

Netzer: Wir haben zurzeit einfach Pech, dass es diese überragenden Spanier gibt. Da kommen wir im Moment einfach nicht vorbei. Das ändert aber nichts daran, dass wir froh und stolz sein dürfen, mit welchem Fußball diese Nationalmannschaft unser Land vertritt. Ich leide mit den Spielern, dass dieser Fußball noch nicht mit einem Titel belohnt wurde. Aber wirklich gelitten habe ich in den Jahren des deutschen Rumpelfußballs, als einige Experten gedacht haben, mit unserer Physis würden wir die anderen einfach überrennen. Ja, es hieß sogar, dass ein Wolfgang Overath oder ein Günter Netzer bei einem solchen Kraftfußball keine Existenzberechtigung mehr hätten. Da war ich wirklich sauer.

Dennoch scheint dieser Mannschaft ein echter Chef zu fehlen, der im entscheidenden Moment für die Wende sorgt.

Netzer: Die Frage ist eher, ob eine Mannschaft in der heutigen Zeit überhaupt noch einen Chef braucht. Ich bin zwar ein Freund klarer Hierarchien in einem Team. Es hat sich immer ausgezahlt, wenn einer vorangeht. Aber der heutige Fußball produziert ganz andere Spielertypen. Zu meiner Zeit wusstest du, dass es wahrscheinlich reicht, wenn du die zwei, drei überragenden Spieler des Gegners ausschaltest. Selbst wenn einer Mannschaft dies gegen Messi halbwegs gelingen würde, hieße dass noch lange nicht, dass man gegen Barcelona gewinnen würde. Barça hat dann immer noch eine überragende Qualität. Es gibt heute nicht mehr diese Abhängigkeit von Einzelkönnern.

Aber brauchen wir nicht auch zumindest einen exzentrischen Spieler wie den Italiener Mario Balotelli, der Deutschland im EM-Halbfinale fast im Alleingang besiegt hat? Sind unsere Spieler zu brav?

Netzer: Ich würde einen Balotelli nie holen. Solche Spieler verleiden mir den Fußball. Bei Manchester City zählt er zu diesen Profis mit einem grotesken Missverhältnis zwischen fürstlicher Bezahlung und erbrachter Leistung. Solche Charaktere können eine ganze Mannschaft durcheinanderwirbeln, ich habe es beim HSV selbst erlebt.

Wen meinen Sie?

Netzer: Nach unseren großen Triumphen wollte ich die Mannschaft 1983 verjüngen, um den Erfolg in Hamburg zu halten. Also habe ich für Horst Hrubesch, der damals über den Zenit seines Leistungsvermögens hinaus war, und Lars Bastrup, der unbedingt wegwollte, zwei neue Spieler geholt: Dieter Schatzschneider und Wolfram Wuttke, die fußballerisch besser waren als ihre Vorgänger. Leider haben sich beide an ihrem Talent versündigt. Sie haben nie das abgerufen, was sie wirklich können, und mit ihrer Art den halben HSV verrückt gemacht. Heute werden sie sich hoffentlich ärgern, welche Chance sie damals weggeworfen haben. Sie hätten eine neue Ära des HSV prägen können.

Dennoch gibt es in Deutschland eine Sehnsucht nach echten Typen.

Netzer: Ich kann mit diesem Begriff wenig anfangen. Nein, ich vermisse die echten Persönlichkeiten, aber nicht nur im Fußball, sondern in allen gesellschaftlichen Gruppen. Persönlichkeiten, die über ihren Bereich hinaus etwas ausstrahlen, einen eigenen Lebensstil haben, Horizonte öffnen. Keiner will sich mehr aus dem Fenster lehnen, es geht ja auch viel einfacher.

Vereinfacht gesagt: Es gibt keinen Günter Netzer mehr ...

Netzer: Ich galt ja früher als der Verrückte, auch bei meinem Amtsantritt in Hamburg. Die Leute haben gesagt, dieser Ferrari-Fahrer und Diskothekenbesitzer gibt uns jetzt den Rest. Die Messer waren schon gewetzt. Was meinen Sie, was passiert wäre, wenn wir keinen Erfolg gehabt hätten? Aber am Ende habe ich durch meine Arbeit überzeugt. Genau wie als Spieler. In Mönchengladbach haben sie ja auch nur zähneknirschend meinen Lebensstil akzeptiert. Sie haben es gemacht, weil sie sich darauf verlassen konnten, dass ich meine Leistung bringe. Und Leistung ist die Basis von allem.