Stuttgart/Hamburg. Mit müden Augen wartete Dennis Aogo vor der HSV-Arena auf die Abfahrt zum Sponsorentermin am Hamburger Flughafen. Die Nacht war kurz gewesen nach dem überraschenden 2:1-Erfolg beim VfB Stuttgart, dem ersten Sieg nach 13 vergeblichen Anläufen oder 188 Tagen, doch in Aogos Worten schwang Erleichterung pur mit: "Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Steine uns vom Herzen gefallen sind. Das war schon eine besondere Drucksituation."

Hilf- und planlos hatte sich das HSV-Team beim 0:1 gegen Mönchengladbach präsentiert, die Perspektive im Abstiegskampf war erschütternd. Nach der Entlassung von Trainer Michael Oenning und der Übernahme von Rodolfo Cardoso reichten nur vier Tage, um die Mannschaft wieder zu reanimieren, ihr neue Hoffnung zu geben. Wie hat er Cardoso das bloß gemacht?, war die am häufigsten gestellte Frage des Wochenendes. Die Antwort war denkbar einfach: Indem der 42-Jährige den vom lang anhaltenden Misserfolg gezeichneten Spielern die Leichtigkeit des Fußballdaseins zurückbrachte.

Natürlich mag Cardoso von dem häufig zu beobachtenden mentalen Phänomen profitiert haben, dass ein entlassener Trainer im übertragenen Sinne die Schuld mit sich nimmt und die Spieler eine Befreiung spüren, weil sie wieder von Null einen Neuanfang starten können. Der Trainer der U-23 konnte diesen Effekt offenbar für sich nutzen, indem er den HSV-Profis im Training kleine Erfolgserlebnisse verschaffte und sie daran hinderte, zu viel zu hinterfragen oder die Dinge zu zerreden. "Ich habe die Mannschaft ein bisschen geweckt, die Jungs aufgefordert, sich nicht zu viele Gedanken zu machen, vor allem nicht über den Gegner", beschrieb Cardoso seinen lockeren Führungsstil. "Es ging darum, auf dem Platz nicht zu warten, was der VfB wohl machen wird, sondern selber was zu tun, die Abwehr zu beschäftigen. Nur so verschafft man sich Respekt."

Gut zuhören zu können, ist offenbar auch eine von Cardosos Charaktereigenschaften. Dass er den HSV in Stuttgart mit Gökhan Töre und Zhi Gin Lam auflaufen ließ, war nicht seine alleinige Entscheidung. "Viele von uns haben auf den Trainer eingeredet, Zhi Gin zu bringen", sagte Mladen Petric. "Er hat uns Spieler schon beim Testspiel in Luzern überzeugt und hat auch im Training gut mitgespielt." Insofern war die Risikofreude bei der Aufstellung, die Sportchef Frank Arnesen nach der Partie ausdrücklich lobend erwähnte, ihm Grunde gar keine. Cardoso wusste um die individuellen Qualitäten Lams und die Unterstützung des Teams, vertraute auf seinen Instinkt und behielt recht.

Zugleich gelang es dem Interimstrainer insgesamt, das Verantwortungsbewusstsein der Spieler zu stärken und sie in die Pflicht zu nehmen. "Ich habe den Jungs gesagt, es ist jetzt fünf vor zwölf, wir müssen etwas tun. Es zählt nicht mehr, nach dem Abpfiff zu sagen, wir hatten doch so viel vor", sagte Cardoso, der eine andere Linie als Vorgänger Oenning fuhr und mit seiner Ansprache genau den Nerv der Spieler traf.

Natürlich genoss Cardoso die Rückkehr auf die große Fußballbühne. Und ja, in seinem Gesicht blitzte ungeschützt die Gier auf, diese Phase noch länger zu genießen als nur bis zur Partie gegen Schalke am Sonntag. Doch Ausnahmeregelungen für Trainer ohne eine Fußballlehrerlizenz gibt es nicht mehr, seit Matthias Sammer als Sportdirektor des Deutschen Fußballbundes strengere Regeln eingeführt hat. Möglich wäre längeres Wirken Cardosos nur, wäre er bereits für einen Lehrgang angemeldet, was aber nicht der Fall ist. "Ich weiß, dass das ein Thema für die Zukunft ist", sagte Cardoso leicht betrübt, "das geht aber nicht von heute auf morgen." Dass er aber mittelfristig ein Kandidat für den Cheftrainerposten ist, machte der Klubvorsitzende Carl-Edgar Jarchow deutlich, als er sagte, er sehe Cardoso "perspektivisch weiter im Verein".

Dass Cardoso nun in jedem Fall noch einmal auf der Bank sitzen darf, macht Sinn. Warum sollte die Klubführung die zarte Aufbruchstimmung stoppen, indem sofort ein neuer Trainer installiert wird, der sich erst orientieren muss und womöglich zu Beginn für erneute Verunsicherung sorgt? Mit Cardoso ist bei Spielern und Funktionären in nur 90 Minuten der Glaube an das Potenzial und die Stärke der Mannschaft zurückgekehrt. "Es war wichtig, wieder das Gefühl eines Sieges zu erleben", sagte Petric, "aber Grund für Euphorie gibt es längst nicht. Das war noch nicht die Wende. Allerdings: Sollten wir genauso gegen Schalke auftreten, wird es auch für sie schwer, gegen uns zu gewinnen." Vor einer Woche wäre so eine Aussage undenkbar gewesen.