Im Abendblatt-Sportgespräch diskutiert der HSV-Vorsitzende Carl-Edgar Jarchow mit Uwe Seeler über alte Fehler und neue Ziele des HSV

Hamburg. Die 136 Stufen der Freitreppe des Dockland an der Elbe bleiben Uwe Seeler und Carl-Edgar Jarchow erspart. Im Fahrstuhl sausen das HSV-Idol und der HSV-Vorsitzende bis zur Terrasse in die Höhe und genießen den Ausblick, auch wenn Seeler gesteht: "Ganz schwindelfrei bin ich nicht." Zum Interview geht's deshalb in das Fischereihafen-Restaurant um die Ecke.

Abendblatt: Herr Jarchow, Herr Seeler, wie lange kennen Sie sich?

Carl-Edgar Jarchow: Ich ihn natürlich länger.

Er war Ihr Idol, sagt man.

Jarchow: Ohne Uwe wäre ich vermutlich nicht zum Fußball und zum HSV gekommen. Mein großer Traum war ein Autogramm von ihm. Da mein Vater gute Beziehungen zur Holsten-Brauerei hatte, brachte er mir zu Weihnachten einen Ball mit Uwes Unterschrift.

Wo ist der heute?

Jarchow: Den Ball haben wir natürlich jahrelang nicht benutzt, bis wir ihn doch mal brauchten. Uwe, leider habe ich den Ball heute nicht mehr.

Uwe Seeler (lacht): Mein Vater hatte auch beste Verbindungen zur Holsten-Brauerei. Von denen hat er zum Schluss jede Woche einen Kasten Bier gratis nach Hause geliefert bekommen ...

Jarchow: Persönlich kennengelernt haben wir uns 1973, da gab es die erste Trikotwerbung beim HSV. Das war Campari, dafür hatte mein Vater gesorgt, er hatte damals auch die Mannschaft zum Essen eingeladen - und Uwe war dabei. Er wird sich nicht mehr erinnern, aber für mich war das ein großer Moment.

Seeler: Zu der Zeit hatte der HSV viele junge Küken. Und Willi Schulz, der den Laden geführt hat. Damals war der HSV schon auf dem aufsteigenden Ast mit Jungen wie Kaltz, Kargus oder Hidien.

Jarchow: Das ist genau jene Phase, die wir heute wieder brauchen. Mit jungen Leuten einen neuen Start wagen. Damals klappte das ja ganz hervorragend.

Seeler: Wie man ja weiß, sind die meisten durchgekommen. Obwohl man das am Anfang nicht wissen konnte. Die Jungs brauchten schon ihre Zeit.

Ist das mit heute vergleichbar?

Seeler: Das werde ich in diesen Tagen immer wieder gefragt, und ich sage immer, dass es der HSV für meine Begriffe genau richtig macht. Es ist ein Neuaufbau erforderlich. Nur: Es ist unheimlich schwierig, genau die richtige Mischung für eine neue Mannschaft zu finden, denn es besteht ja auch die Gefahr, dass es einen Rückschlag geben kann.

Jarchow: Das ist nicht ohne Risiko.

Was hat dem HSV denn vor allem zuletzt gefehlt, was muss anders werden?

Seeler: Das war ja keine Mannschaft, das ist eigentlich der Hauptgrund.

Jarchow: Die Struktur fehlte.

Seeler: Man hat immer wieder geglaubt, dass sich die Spieler mal zusammenraufen. Aber das passierte nicht. Es gab nie Kontinuität in der sportlichen Leistung, die Mischung stimmt nicht. Diese braucht man aber, wenn man Erfolge haben will. Das wird auch noch in 100 Jahren so sein. Das beste Beispiel ist Barcelona. Die spielen nicht nur Traumfußball, da steht eine Mannschaft auf dem Platz, jeder weiß, was der Nebenmann macht, da läuft jeder für jeden. Das Spiel ohne Ball ist perfekt.

Hat dieses Konzept Vorbildcharakter?

Jarchow: Das ganze Konzept des FC Barcelona basiert ja auch darauf, dass sie erst einmal eine gute Jugendarbeit haben, denn es kommen ja eine Menge talentierte Spieler nach oben, die früh langfristig an den Klub gebunden werden. Das haben wir in den vergangenen Jahren vernachlässigt bei uns.

Seit Jahrzehnten.

Jarchow: Man könnte auch Jahrzehnte sagen. Und dazu gehört auch, dass ein Spielsystem bis nach ganz unten gespielt und dementsprechend trainiert wird. Wer dann oben ankommt, weiß ganz genau, was er zu tun hat.

Wieso kommt denn aber beim HSV kaum einer mal aus der Jugend nach oben?

Seeler: Dazu sage ich lieber nichts. Das bespreche ich mit dem Herrn Jarchow in einem kleinen Raum mal unter vier Augen ... Ich hoffe aber, dass er es schon weiß, was da draußen los ist.

Jarchow: Auch in diesem Bereich hat die Kontinuität gefehlt, die man zwingend benötigt. Wir aber haben dort im Jahresrhythmus die Leitung gewechselt, ein Konzept fehlte.

Seeler: Man muss in gute Trainer investieren, gerade im Jugendbereich.

Jarchow: Eines der Grundprobleme bei uns in Ochsenzoll.

Seeler: Ich sag jetzt fast schon wieder zu viel, aber mit diesen Computern ... Fußball lernt man auf dem Platz, da erlernt man das Zweikampfverhalten, die Torschüsse und Kopfbälle. Wenn ich an meine Zeit als kleiner Bengel bei Dettmar Cramer denke: Der hat mir gezeigt, wie man einen sauberen Pass spielt. Wenn die bei Barcelona einen hätten, der nur verquatschte Pässe spielt, würde das Spiel auch leiden. Aber die spielen alle sauber, sodass der Mitspieler notfalls auch direkt weiterspielen kann. Das ist das Geheimnis.

Wo soll der HSV in drei Jahren stehen?

Jarchow: Ich wünsche mir ein strukturiertes Konzept, von der Jugendarbeit bis hin zur Bundesliga. Es muss Hand in Hand gearbeitet werden. Und mittelfristig muss der HSV immer auf einem Champions-League-Platz stehen. Das Potenzial dafür haben wir. Wir haben es nur in den letzten Jahren nicht genutzt.

Das Potenzial hat der HSV?

Jarchow: Als Region, als Stadt, als Wirtschaftskraft, als Stadion - das ganze Umfeld. Von der Mannschaft her natürlich im Moment nicht. Aber wir müssen jetzt eine Mannschaft formen, die dorthin kommt. Als Uwe damals aufhörte, als die jungen Leute kamen, haben wir es doch auch geschafft. Mit einem Horst Heese als Retter vor dem Abstieg.

Seeler: Der hat für die weicheren Spieler die nötige Luft geschaffen. Er hat uns geholfen, das Team gepuscht.

Stichwort Hilfe: Beim HSV hat Heiko Westermann angeprangert, dass niemand dem Nebenmann hilft. Ist in Wahrheit der moderne Fußball nichts weiter als das Betonen alter Tugenden?

Jarchow: Der Fußball hat sich ein bisschen weiterentwickelt, aber die Grundtugenden haben sich ja nicht verändert.

Seeler: Nee.

Jarchow: Tempo und Laufleistung haben sich schon verändert. Wir haben einen Vergleich mit Dortmund vorgenommen: Was laufen wir, was der BVB? Das ist schon enorm, was die leisten.

Seeler: In jeder Mannschaft müssen alle mitmachen. Auch so ein alter Spruch, der noch in 50 Jahren Gültigkeit haben wird. Lass es schneller geworden sein, aber die Grundprinzipien bleiben.

Ist das nicht aber auch eine Frage der Führung, der Arbeit des Trainers? Muss ein Klub nicht mehr Geduld mitbringen?

Seeler: Da sind wir doch einer Meinung, oder? Das, was bei uns beim HSV in den vergangenen acht Jahren passiert ist, ist eine Katastrophe

Jarchow: Ja, absolut.

Seeler: Jedes Jahr ein neuer Trainer ...

Jarchow: ... wobei nicht jeder Trainer eine Katastrophe war.

Seeler: Ja, ja.

Jarchow: Obwohl, einige schon.

Seeler: Einfach eine Katastrophe!

Jarchow: Wir haben uns ja fest vorgenommen, nicht nach drei, vier verlorenen Spielen an den Trainer zu denken. Da sind wir als Vorstand gefordert, ein bisschen Geduld zu beweisen.

Seeler: Ich werde oft gefragt, was ich erwarte. Wissen Sie, was ich dann antworte? Ich würde mich riesig über einen gesicherten Mittelfeldplatz freuen.

Jarchow: Ich auch.

Seeler: Alles, was obendrauf kommt ...

Jarchow: ... wäre Zugabe.

Seeler: Eine Riesenfreude. Dass ein Team nicht alles gewinnen kann, wenn du sie mit Jungen umbaust, ist logisch. Dortmund brauchte auch zwei Jahre.

Jarchow: Ein gesicherter Mittelfeldplatz wäre mir fast lieber, als wenn wir vier Spiele gewinnen und sofort die Erwartungen hochschnellen und wir gleich wieder Meister werden sollen.

Seeler: Ich verspreche den Leuten immer: Ja, der HSV wird deutscher Meister. Nur das Jahr kann ich Ihnen noch nicht sagen.

Herr Jarchow, Sie hatten angekündigt, Seelers Rat zu suchen. Werden Sie ihn auch mal zur Mannschaft dazuholen?

Jarchow: Ja, das ist auch geplant.

Seeler: Nee, das bringt, glaube ich, nix.

Jarchow: Warte, wir werden uns schon was einfallen lassen!

Wäre doch nicht schlecht, damit die Spieler wissen, für welchen Verein sie eigentlich auflaufen.

Seeler: Ach Gott, das wissen einige schon. Glaube ich jedenfalls.

Jarchow: Wir haben ja auch einige vernünftige Jungs dabei, das darf man nicht verkennen.

Seeler: Aber wenn du ein paar hast, die nicht mitziehen, die bringen den Haufen durcheinander.

Jarchow: Das hatten wir ja gerade.

Seeler: Früher haben wir das geregelt, wenn ein Querkopf dabei war.

Jetzt wird neu aufgebaut. Einige Personen hat Frank Arnesen mitgebracht. Wurden Sie vom neuen Sportchef zu diesen Wechseln gezwungen?

Jarchow: Nein, diese Idee ist schon vor seinem Dienstantritt entstanden. Was ich beim HSV vorgefunden habe, waren häufig Vielfachbesetzungen, das heißt ohne eine genaue Regelung, wer was zu sagen hat. Das haben wir geändert.

Von außen entsteht der Eindruck, der HSV hat sein Wohl ganz in die Hände von Arnesen gelegt.

Jarchow: Im sportlichen Bereich der Bundesligateams ist es immer so, dass sie sich sehr stark in die Hände des sportlichen Chefs begeben. Aber alles wird letztlich im Vorstand entschieden, es gibt eine Gesamtverantwortung.

Seeler: Aber wir müssen schon aufpassen. Den HSV, so wie er gestaltet ist, kennt ja nicht jeder in seinen Bestandteilen. Es wäre schon ganz gut, wenn der HSV selbst einige Vorgaben macht.

Jarchow: Das wollen wir ja auch.

Seeler: Arnesen hat ja den Nachteil, dass er vieles aufarbeiten muss und versuchen soll, die Dinge in die richtige Bahn zu lenken.

Und wer kontrolliert Arnesen?

Jarchow: Seine Vorstandskollegen und der Aufsichtsrat. Wir haben dort einen Finanzausschuss, regelmäßige Sitzungen und Budgets. Herr Arnesen kann nicht durch die Welt reisen und nach Gutdünken Geld ausgeben.

Herr Seeler, Sie haben damals als Vorsitzender den Aufsichtsrat des HSV installiert. Bereuen Sie das heute?

Seeler: Wir erhofften uns damals auch ein bisschen Unterstützung, was das Finanzielle angeht. Denn man darf ja nicht vergessen: Wir waren pleite hoch drei. Wir haben ja selbst Geld in die Portokasse gelegt und die ersten Reisen selbst bezahlt. Für das Benzin in meinem Auto habe ich ein Jahr nicht einen Cent gesehen. Es war nichts da. Dass wir mit der damaligen Mannschaft die Bundesliga gehalten haben, war allein schon ein Wunder.

Und heute?

Seeler: Vielleicht wäre es einfacher mit nur fünf, sechs Aufsichtsräten, aufgeteilt in einen sportlichen und einen Finanzbereich. Aber das ist nun mal nicht. Das kriegen wir nicht hin als HSV.

Ist der HSV schwerer zu führen als andere Fußballvereine?

Jarchow: Weiß ich nicht, ich habe noch bei keinem anderen Klub den Vorsitz gehabt. Mir kommt vielleicht zugute, dass ich selbst drei Jahre im Aufsichtsrat gesessen habe und diese Seite kenne. Ich glaube, dass man auch in unserer Struktur erfolgreich arbeiten kann. Man sollte sich nicht hinter Strukturen verstecken und behaupten, deshalb habe der eine oder andere Erfolg gefehlt. Das waren nicht die Strukturen.

Seeler: Glaube ich auch nicht.

Vielfach wurde auch bemängelt, dass der Verein nach Gutsherrenart geführt wurde. Von einem Herrn und einer Dame.

Jarchow: Aber das widerspricht ja dem, was man auch sagt. Nämlich, dass der HSV nicht zu führen sei, weil so viele verschiedene Gremien beteiligt seien. Auf der anderen Seite sagt man, dass der HSV nach Gutsherrenart geführt wurde. Von zwei Personen.

Und was ist richtig?

Jarchow: Da antworte ich allgemein: Grundsätzlich halte ich Kontrolle für wichtig.

Denken Sie gelegentlich dran, dass Sie nur kommissarisch im Amt sind?

Jarchow: Nein, der Gedanke beschäftigt mich nicht. Ich hätte es mir nie träumen lassen, Vorsitzender zu werden. Jetzt möchte ich für den HSV etwas leisten, den Verein in die richtige Richtung bringen. Wenn das nach drei Jahren andere machen, ist das auch in Ordnung. Ich mache das jetzt, so gut ich kann, mit vollem Einsatz. Ich fühle mich unabhängig und bin nicht in einem Alter, in dem ich noch 20 Jahre Berufsleben vor mir habe. Solange Uwe nicht meinen Rücktritt fordert, bin ich im Amt.

Seeler: Das würde ich nie machen. Ich glaube, für den HSV ist es wichtig, dass mal ein Mann gekommen ist, der wirklich mit dem HSV lebt und das Beste für den Verein will. Ich glaube, es ist sehr gut, jemanden wie Carl zu haben, der den Verein, den Sport kennt und mit Finanzen umgehen kann.

Jarchow: Reicht, Uwe!

Seeler: Er macht das mit Liebe, das ist für alle HSVer beruhigend. Alles muss heute hochprofessionell sein. Aber jedes Geschäft, wenn es gut laufen soll, muss mit Spaß, Freude und Liebe gemacht werden. So einfach ist das. Jetzt bin ich schon wieder bei einfach. Aber ich bin ja auch ein einfacher Mann, das gebe ich ehrlich zu. Auf Dauer hast du nur mit diesen Dingen Erfolg.