Im 131. Stadtderby zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli spielen fast nur Zugereiste - beide Klubs wollen Fokus auf Talente richten.

Hamburg. Elf stolze Hamburger waren es einst, die für den HSV 1960 die Deutsche Meisterschaft erringen konnten: So schwelgen viele Hanseaten, wenn sie sentimental an den Fußball vor der Internationalisierung zurückdenken. Dabei stimmt die Heldenstory nicht so ganz. Klaus "Micky" Neisner kam mit seinen Eltern erst nach dem Zweiten Weltkrieg an die Elbe und muss folgerichtig als Quiddje, als Zugereister, kategorisiert werden.

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Nähme der heute 74-jährige Neisner am Sonntag in der Imtech-Arena Platz, um das Derby zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli zu verfolgen - dazu später mehr -, würde er sich nicht mehr so einsam fühlen wie damals. In beiden Startformationen sind gebürtige Hamburger totale Mangelware. Beim Gast spielt immerhin der Reinbeker Max Kruse von Beginn an. Chancen auf eine Einwechslung haben Dennis Daube (St. Pauli) sowie HSV-Langzeit-Quiddje Piotr Trochowski, der als Fünfjähriger in die Stadt kam. Für Maxim Choupo-Moting, der nach Köln transferiert werden sollte, und Tunay Torun (beide HSV) dürfte dagegen noch nicht mal Platz im Kader sein. Um die norddeutsche Quote etwas aufzubessern, können vom Stammpersonal St. Paulis Fabian Boll (Bad Bramstedt), Fin Bartels (Kiel) und Gerald Asamoah (in Hannover aufgewachsen) herhalten.

Und das ist kein Zufall. Weil dem Aufsteiger die Finanzkraft für eine große Scoutingabteilung oder teure Transfers fehlt, konzentriert man sich in der Regel auf einen überschaubaren Markt. "Lokal, regional und national" werde nach neuen Spielern gesucht, sagt Sportchef Helmut Schulte. Warum aber Hamburger in St. Paulis erster Elf keine große Rolle spielen, erklärt der 53-Jährige mit der Tatsache, dass es gar nicht so viele bundesligataugliche Spieler aus der Region gebe und man diejenigen, die das Potenzial haben, auch nicht alle einsammeln könne. Für Lokalromantik ist auch bei Braun-Weiß kein Platz: Mit Davidson Drobo-Ampem wurde gerade ein Profi, der über SC V/W Billstedt den Sprung zu den Profis schaffte, an Esbjerg (Dänemark) verliehen. "Wir haben einfach keine Spielmöglichkeiten für bestimmte Fußballer, auch wenn sie aus der Region sind", sagt Schulte. "Es genügt nicht, nur im Kader zu sein. Man muss auch spielen, um sich weiterzuentwickeln."

Obwohl die finanziellen Möglichkeiten beim HSV ganz andere sind, definiert Christofer Clemens, der Leiter der Abteilung Scouting und Spielanalyse, seine Arbeit so: "Natürlich muss es das Bestreben sein, möglichst viele Talente aus dem eigenen Umfeld zu verpflichten." Zwar könnte die eigene Stadt kein Schwerpunktgebiet der Suche sein, weil der Fußball viel zu global geworden sei. Doch der FC Bayern und Dortmund hätten in der Bundesliga eine Vorreiterrolle übernommen: "Diese beiden Vereine haben in den vergangenen Jahren sehr viel richtig gemacht. Es ist also kein Zufall, dass in den aktuellen Profiteams viele Eigengewächse spielen. Die Durchlässigkeit ist bei diesen beiden Vereinen einfach größer als bei anderen Vereinen. Langfristig ist das der einzige Weg."

Ob diese Strategie in Hamburg gelingen kann, daran hat Neisner, der Dino-Quiddje, allerdings große Zweifel. "In dieser Medienstadt wird einem Trainer kaum Zeit gegeben, eine Mannschaft aufzubauen und zu entwickeln, er ist zu sofortigem Erfolg verdammt und wählt deshalb tendenziell eher fertige als junge Spieler." Dass der frühere Außenstürmer am Sonntag das Derby nicht live verfolgen wird, hat jedoch andere Gründe als vermissten Lokalpatriotismus. "Ich bin, vorsichtig formuliert, nicht glücklich über die Spielweise des HSV. Von der ersten Minute an werden die Bälle nach vorne geschlagen."

Indirekt betroffen von der Zunahme der Multikulti-Teams in Hamburg ist allerdings auch Neisner. Als Mitorganisator der HSV-Altliga, die rund 20 Spiele pro Jahr austrägt, fällt es ihm immer schwerer, Nachwuchs zu rekrutieren: "Ich denke, bald wird es mit der Traditionsmannschaft ein Ende haben. In Hamburg spielen doch fast nur noch Legionäre oder Söldner, die in Hamburg ihrem Beruf nachgehen und nach einiger Zeit wieder woanders spielen." Aber wer weiß, vielleicht sieht die Zukunft nicht ganz so düster aus. "Heute ist es ja bei kaum einem Verein so, dass Spieler ihre Wurzeln in der gleichen Stadt haben", sagt Jung-Quiddje Marcell Jansen (HSV). "Aber wer schon ein bisschen länger in Hamburg ist, fühlt sich auch als Hamburger. Ich bin jetzt in der dritten Saison hier und weiß, was dieses Derby für diese Stadt bedeutet." Und auch Dennis Aogo, seit 2008 in Hamburg, hat bis 2015 verlängert. Wenn das keine Profis sind, die das Zeug für einen Oldie-Quiddje haben.