Der frühere HSV-Star Jimmy Hartwig stürzte nach der Karriere ab, nahm auch Kokain. Jetzt tingelt er durchs Leben - der Vorhang ist immer auf.

Auch in München deckt der Schnee in diesen Tagen vieles zu. Die Bäume und die Straßen sind weiß. Auf dem Weihnachtsmarkt am Marienplatz ist die Hölle los. Gleich um die Ecke im französischen Restaurant ist es angenehm ruhig. Es gibt Ente und milden Rotwein. Jimmy Hartwig lacht viel und erzählt, dass er Heiligabend mit seiner Frau Stefanie und seiner 17 Monate alten Tochter July zur Kinderchristmette in die Heilig-Kreuz-Kirche gehen wird. Und dass er überlegt, in die katholische Kirche einzutreten.

Wenn der kleine William Hartwig in der berüchtigten Offenbacher Siedlung Kirchenallee von seiner Mutter zum Einkaufen zu Lebensmittel-Cottin geschickt wurde, nahm ihm die Verkäuferin jedes Mal den Einkaufszettel aus der Hand und kreischte durch den Tante-Emma-Laden: "Brot kannste habbe, und Milch kannste aach habbe. Des anners kannste net habbe, des könnt ihr sowieso net bezahle."

Jeden Montag wiederholte sich die Prozedur, weil es der Mutter zu peinlich war, selbst bei Herrn Cottin einzukaufen und anschreiben zu lassen. Und jeden Montag wäre der kleine William vor Scham am liebsten im Boden versunken. Auf dem Nachhauseweg kam er immer an zwei frei stehenden Bungalows vorbei und schwor sich: "Wenn du groß bist, William, wirst du auch in so einem Haus wohnen."

Das war, schreibt er in seinem Buch "Ich bin ein Kämpfer geblieben", eine Mischung aus "Wut, Wehrlosigkeit und Größenwahn". Das kleine Besatzerkind aus Offenbach brauchte 50 Jahre, um sich von diesen drei Gefühlen zu befreien. Er benutzte dafür am liebsten die ganz große Bühne.

Jimmy Hartwig ist ein Schauspieler.

Das Publikum bejubelte Jimmy, den dynamischen HSV-Profi und Nationalspieler. Es erfuhr sämtliche medizinischen Details über den vor 20 Jahren an Prostatakrebs erkrankten Hartwig und amüsierte sich in der nächsten Szene über Jimmy, den Clown im RTL-"Dschungelcamp". Zuletzt bedachte es Hartwig, den Woyzeck auf der Theaterbühne in Leipzig, mit Beifall. Der Vorhang war ein Leben lang auf. Da hatte einer, so schien es, nichts zu verbergen.

Es gibt einige Leute in Hamburg, die verdrehen bei dem Namen Jimmy Hartwig die Augen. Einer, der immer nur sich selbst gesehen hat und noch vielen Leuten etwas schuldet. Der seine Frau betrogen, seine Krankheit vermarktet und sich um seinen Sohn Daniel kaum gekümmert hat. Und der jetzt die Geschichte von seinem abwesenden Herrn Papa erzählt. Der ihm die Hautfarbe vermacht hat. Und damit ein handfestes Problem.

Jimmy Hartwig, 56, erzählt von dem US-Sergeant namens Herbert Yarbrough. Seinem leiblichen Vater, der sich aus dem Staub gemacht hatte und in der Familie tabu war. "Dich hätt man aus Schokolad' gegosse, Bub", sagte die Großmutter immer. Der Vater, den er nur einmal gesehen hat. Vier Jahre war er alt, als ein "baumgroßer, dunkler Mann" plötzlich im Zimmer stand, ihm über die Haare strich, "nice boy" murmelte, ihm einen schweren, silbernen Fotoapparat aufs Bett legte und dann wieder verschwand. Der die Vaterschaft zunächst abstritt und einen Freund zu der Aussage brachte, viele könnten der Vater des kleinen William sein, seine Mutter habe es schließlich mit jedem getrieben. Erst ein Vaterschaftstest brachte Klarheit.

Wenn Jimmy Hartwig seine Mutter nach dem Vater fragte, "verschloss sie sich wie ein Insekt in seinem Kokon" und ließ keinen mehr an sich heran. "Mutti hat mich geliebt, aber sie konnte es mir nie zeigen", sagt Jimmy Hartwig. "Ich liebe Daniel", sagt er, "und konnte es ihm auch nicht zeigen." Er habe seinem Sohn eine "Last auf die Seele gelegt", so viele nicht gehaltene Versprechen. Das sei keine Entschuldigung. Nur der Versuch einer Erklärung.

Daniel Hartwig sitzt in Berlin an einem Drehbuch. Es soll "Zwei Brüder" heißen, und Daniel hofft, dass es Mitte nächsten Jahres fertig ist. Es ist eine fiktive Geschichte mit autobiografischen Zügen. "Sie handelt von zwei Menschen, die sich vorher nicht kannten und erst nach dem Tod ihres Vaters zusammenkommen", sagt Daniel. Der 32-Jährige ist vor zwei Monaten das erste Mal selbst Vater geworden. Daniel hat vier Jahre lang auf RTL 2 "The Dome", Europas bekannteste Musiksendung, moderiert. Dann besuchte er drei Jahre lang eine Schauspielschule in Berlin und hatte kleinere Bühnen-Engagements. Das Buch seines Vaters kennt er nicht, dazu kann er nichts sagen.

Daniel wollte mal Regisseur werden. Aber dann traf er Jan Fedder, und der Hamburger Schauspieler hat ihm abgeraten. Viel Arbeit, tausend unterschiedliche Interessen, wenig Dankbarkeit, nur Kleinkriege. "Das ist wie bei einem Fußballtrainer", sagt Daniel.

Jetzt lebt er in Berlin und ist ein Schauspieler, der auch Drehbücher schreibt und Kurzfilme dreht. Er brauchte lange, um sich vom Vater abzukapseln. Der Weg aus dem Schatten war mühsam. "Es war schwierig, aus dem Nachnamen Hartwig einen eigenen Namen zu machen", sagt er.

Und nun mutiert der Ex-Fußballer Jimmy Hartwig ausgerechnet zum Schauspieler. "Lustig ist das nicht, wenn dein Vater sich deinen Beruf aussucht und dir nacheifert", sagt Daniel. Er klingt dabei nicht verbittert. Er habe heute ein gutes und freundschaftliches Verhältnis zu seinem Vater und ihn auch schon auf der Bühne gesehen. "Als Woyzeck war er wirklich gut, sehr echt." Sein Vater sei jetzt kein Ex-Kicker mehr, der sich nun als Schauspieler versucht, findet Daniel. "Er ist auf dem Weg zu einem Schauspieler, der früher einmal ein Fußballer war."

In seinen besten Zeiten gehörte Jimmy Hartwig zu einer der besten Fußballmannschaften Europas. Er war fester Bestandteil der HSV-Elf, die unter den Trainern Branko Zebec und Ernst Happel mit Kaltz und Hrubesch, Magath und Keegan, Stein und Jakobs die Bundesliga dominierte.

Jimmy Hartwig kam 1978 nach Hamburg. "Jede Saison haben sie neue Spieler für meine Position verpflichtet. Aber ich habe mich immer wieder durchgesetzt", sagt er. Der rustikale Balleroberer erzielte in 244 Bundesligaspielen 63 Tore. Für einen defensiven Mittelfeldspieler eine fabelhafte Quote.

Die HSV-Kollegen von früher beschreiben Jimmy Hartwig als einen positiv Verrückten, in dem schon immer ein Schauspieler geschlummert hat. Einer, der oft übers Ziel hinausgeschossen ist und es mit der Wahrheit nie so genau genommen hat. Der den Kollegen erzählte, er wolle sein Haus in Poppenbüttel für 650 000 Mark verkaufen. Und dann fanden sie heraus, dass er dort angeblich nur zur Miete wohnte. Der im geliehenen Ferrari vorfuhr und im "kicker" erzählte, dass er sich das Auto gerade gekauft habe. Der hilfsbereit war und den Dicken machte. Immer auf große Welle. Ein lauter Clown. Ein lustiger Spinner, der, wenn er eine Geschichte dreimal erzählt hatte, sie am Ende sogar selbst geglaubt hat.

Einer auch, den sie als zweikampfstarken und torgefährlichen Mitspieler schätzten. Der keine Angst hatte und kopfballstark war. Jimmy Hartwig wurde dreimal deutscher Meister und darf sich auch Europapokalsieger nennen, obwohl er beim 1:0-Triumph gegen Juventus Turin 1983 in Athen gelbgesperrt fehlte.

Vier Jahre später ist die Karriere zu Ende. Der Abstieg des zweifachen Nationalspielers begann mit dem Wechsel zum 1. FC Köln und der Ansage des Torwarts Toni Schumacher während der ersten Fahrt ins Trainingslager: "Ey Hartwig, hier bin ich der Chef. Hier sag ich, was los ist. Hier hast du nichts zu melden." Jimmys Antwort: "Du kannst mich am Arsch lecken."

Es folgten Stationen in Salzburg und Homburg, dann war Schluss. Hartwig versuchte sich als Trainer, wurde kurz nach der Wende Coach bei Sachsen Leipzig, als erster Fußball-Wessi im Osten. Neun grauenvolle Monate mit Spielabbrüchen und Rechtsradikalen, die ihn am Zaun bespuckten, als Negerschwein beschimpften und skandierten: "Hartwig, dich bringen wir um."

Er ging wieder in den Westen und schlug sich die Nächte um die Ohren. "Ich schnupfte Kokain. Ich umgab mich mit Leuten aus der Unterwelt. Ich trieb mich in Bordellen rum und betäubte mich in schummrigen Saunaklubs. Immer wieder Kokain, Kokain, Kokain", schreibt er. "Ich fand sie wieder, die Leute, die mir versicherten: 'Jimmy, du bist echt ein toller Typ.'"

Thomas Thieme ist Schauspieler und Regisseur. Er hat Jimmy Hartwigs Fußballkarriere verfolgt und ihn 1997 in Berlin gefragt, ob er nicht Lust auf die Theaterbühne habe. Thieme sagt über Hartwig, er habe "die Kraft eines Stieres und die Seele eines kleinen Jungen". Thieme sagt auch, Hartwig habe eine natürliche Begabung, Menschen zu unterhalten. "Sie zu langweilen ist in seiner Natur gar nicht vorgegeben."

Als der Krebs kam, wurde aus Spaß tödlicher Ernst. Jimmy Hartwig sagt, er hat nach zwei Operationen und zahlreichen Chemotherapien die traditionelle Behandlung abgebrochen. Trotz Metastasen im Hüftbereich. Das ist bald 20 Jahre her. Er lernte den Heilpraktiker Dr. Rolf Stühmer in Fleestedt kennen. In zahlreichen psychotherapeutischen Sitzungen versuchten sie, an die Wurzel des Übels zu kommen. Daniel erinnert sich, dass er einmal dabei war. "Da war ich 13 und fand das ganz furchtbar." Stühmer ist vor zehn Jahren verstorben. Vielleicht, schreibt Jimmy Hartwig, ist auch "der Krebs nichts anderes als ein erneuter Schrei nach Aufmerksamkeit". Er nehme regelmäßig Medikamente, habe mittlerweile sensationelle Blutwerte und ist inzwischen der festen Überzeugung, "diese teuflische Krankheit im Griff zu haben".

Jimmy Hartwig hält jetzt Vorträge und erzählt Jugendlichen etwas über Krebsvorsorge. Er hat das Buch geschrieben, damit die Leute verstehen, "warum ich die ganze Scheiße gebaut habe". Er hat eine Frau an seiner Seite und will sie festhalten. Er hat zum Glauben gefunden und sagt: "Die Prüfung, die Gott mir mit der Krankheit auferlegt hat, ist richtig." Damit er endlich beginne nachzudenken. Ein Leben lang habe er immer nur sich gesehen. Andere Menschen hätten ihn nicht interessiert. Egal, wer da auf der Strecke geblieben ist. "Gott wird sich gesagt haben: 'Okay, dem Jimmy Hartwig werde ich zeigen, dass es auch anders geht.'"

Er will wieder auf die Bühne. Was ihn reizt, ist der Dorfrichter Adam in Kleists "Zerbrochenem Krug". Oder Shakespeares "Othello". Oder der Willy Loman in Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden". Auch so ein getriebener, arbeitsloser Typ, schreibt Hartwig, der mit seinen Söhnen über Kreuz ist. "Der kommt nach Hause, und die Frau erwartet von ihm, dass er was verkauft hat. Und dann macht er allen und sich selbst was vor, indem er sagt: 'Ich glaub, ich werde wieder befördert.' Dabei ist er weit weg davon. Er ist ja der letzte Arsch in der Firma."

Jimmy Hartwig lacht. Er wird einfach immer weiter schauspielern.