Der Journalist Hauke Schrieber, 42, ist seit über 35 Jahren glühender Fan des HSV. Im Abendblatt schreibt er über seine Leiden im Abstiegskampf

Hamburg. Der Beton zwischen meinen Füßen ist schwarz.

Ich kann nur schätzen, wie viel Liter Spucke mir in den vergangenen Jahren vor Anspannung, Gram, Wut und Fassungslosigkeit aus dem Mund liefen, während ich meinen Kopf zwischen die Knie nahm, um nicht mehr hinsehen zu müssen. Und ja: Ich habe nicht wenig Geld dafür bezahlt, dort regelmäßig sitzen zu dürfen, um zu leiden.

Volksparkstadion, Block 22B, Nordwestecke, direkt über der Uhr, die noch tickt. Meine Folterkammer. Hoffnungslosigkeit, Sorgen, Verzweiflung: Hier regiert mein HSV.

Aber jetzt: nackte Angst. Nein, Panik. Vor dem Unaussprechlichen. Oder wie soll ich den Fall der Fälle nennen, wenn mir dieses böse A-Wort nicht über die Lippen kommen will? Den Montagabend-Heimspiel-gegen-Sandhausen-Fall? Da bleibt einem ja die Spucke weg.

Ich bin ja selbst schuld. Im Herbst 1975 stand der fünf Jahre alter Steppke aus Harburg zum ersten Mal in der Westkurve und erlebte ein 2:1 gegen Hertha BSC. Da war eigentlich schon alles klar. Das 0:0 des FC St. Pauli gegen Schwarz-Weiß Essen wenige Monate später am Millerntor machte den HSV endgültig alternativlos.

Die ersten Jahre - ein großer Spaß. Ich durfte mich dreimal pro Saison in den Vorortzug setzen, wanderte munter von der S-Bahn-Station an der Müllverbrennungsanlage vorbei zum Stadion, in Kinderkutte und mit Knackwurst. Ich sah fast immer Siege, wurde Meister, am Fernseher sogar Europapokalsieger, dann noch mal Pokalgewinner. Ich fuhr 1987 nicht zum Finale nach Berlin. Pokal. Pah! Ein zweitklassiger Titel, gewonnen gegen eine zweitklassige Mannschaft. Geschenkt.

Ich hatte ja keine Ahnung.

Der britische Schriftsteller und Arsenal-London-Fan Nick Hornby behauptet in seinem Roman "Fever Pitch", dass 90 Prozent des Lebens eines Fußballfans aus Demut, Leiden und Verzweiflung bestünden. Der Mann macht mir Spaß. Ist Fan eines Vereins, der viermal mehr Spiele gewinnt als verliert. Arsenal gegen das englische Sandhausen - ausgeschlossen. Als HSV-Fan halte ich 90 Prozent für einen stark abgerundeten Wert.

Übrigens, Mister Hornby: Als Arsenal zuletzt im Volkspark spielte, gab es nach wenigen Minuten einen unberechtigten Elfmeter für euch inklusive Roter Karte für den HSV-Torwart. Und als mein Verein zuletzt in Ihrem London spielte, hieß der Gegner Fulham. Das nur mal so. Und Sie wollen mir was von Leiden erzählen? Das größte Spiel der jüngeren HSV-Geschichte war eine Partie, in der wir wieder einmal kurz vor Schluss den Ausgleich kassiert haben - zum 4:4 gegen Juventus. Selbst Höhepunkte enden beim HSV irgendwie immer tragisch.

Seit ein paar Jahren (Bremen, Fulham, Derby) habe ich den Verdacht, dass für meinen Verein eine Regel gilt, die in ihrer Absolutheit ebenso beängstigend wie faszinierend klingt: Es kommt alles noch viel schlimmer.

Dass St. Pauli uns in der Relegation in die 2. Liga schießt, halte ich daher fast schon für konsequent.

Und trotzdem bereite ich mich auf das Heimspiel gegen Hannover vor, der kleine HSV aus Niedersachsen ist längst der größere. Statt aus Titelträumen schrecke ich morgens aus Albträumen hoch, in denen mir der FC Ingolstadt durch einen späten Ausgleich den Sonntagmittag versaut hat.

Der Ablauf wird wie immer sein. Mit HSV-Schal und Rauten-Mütze verlasse ich gegen 14 Uhr unser Wohnhaus in Eimsbüttel. Bis zur U-Bahn bin ich ein einsamer, merkwürdiger Mann. Passanten mustern mich mit einer Mischung aus Mitleid, Unverständnis und Amüsement. Bei einigen glaube ich ein leichtes Stirnrunzeln und Kopfschütteln zu entdecken, kann aber auch Einbildung sein.

In der U-Bahn die ersten Fan-Kollegen und das beruhigende Gefühl: Du bist mit deinem Problem nicht allein, Junge. Umsteigen Sternschanze. Ich sehe Kinder in Petric-Trikots und mit selbst gebastelten Fahnen, voller Vorfreude auf einen aufregenden Nachmittag. Ich bin immer kurz davor, zu ihnen zu gehen und zu sagen: Tut das nicht! Geht ins Kino! Das Leben hält für euch noch genug Enttäuschungen bereit!

Andererseits: Ist der HSV nicht die beste Schule fürs Leben? Die frühe Erkenntnis, dass nicht alles nur eine Paaadie ist und ein Lieblingsverein keine coole Modemarke?

Also lasse ich die Kinder in Ruhe, atme auf dem Weg zum Stadion den süßen Duft verbrannten Mülls ein, weil der Wind so herrlich aus Südosten weht. Ach, alles so wie früher! Mein HSV! Heute gewinnen wir! Schau dir diese ganzen fröhlichen Gesichter an. Es muss klappen. Ich bin einfach ganz sicher.

Endlich im Stadion. Das Irrenhaus der Liga. Mehr als 50 000 Patienten, die alle an derselben geistigen Krankheit leiden: der Liebe zu den drei Buchstaben, zu den weißen Hemden, den roten Hosen, den blauen Stutzen, zu der Raute. Eine Hassliebe.

Dann laufen die Teams ein, und dieses furchtbare Lied erklingt. "Hier weiß jedes Kind, dass wir Champions sind. Wir sind meisterhaft, Hamburg ist die Maaaacht."

Fremdschämen. Anstoß. Wahrscheinlich frühes Gegentor. Rückstand. Pause.

In der Schlange vor dem Klo kommt mir ein böser Witz in den Sinn. Wo treffen sich jedes zweite Wochenende 50 000 Menschen, um zwei Stunden lang eine schlechte Zeit zu haben?

In der zweiten Halbzeit wird Berg vielleicht eine Halbchance bekommen und sie vergeben, aber das Publikum wird da sein. "Wir geh'n voran. Als euer zwölfter Mann. Durch Regen und Wind, durch Sturm und Schnee. HSV, olé!"

Jetzt stehen alle. Ich drehe mich um, blicke meinen Block hinauf. In die Augen von 22B. Ich sehe Wahnsinn, Hoffnung, Liebe und Verzweiflung. Wir Irren in unserer Anstalt. Unser Fantrikot als Zwangsjacke. Mir wird wieder ganz warm um meine Raute im Herzen.

Ich setz mich wieder hin, den Kopf zwischen die Knie, und spucke auf den Beton. Blicke auf, die Augen vor Entsetzen aufgerissen, als eine Ecke von Hannover 96 in unseren Strafraum segelt.

Was dann passieren wird? Albtraum oder Auferstehung? Ich habe wirklich keine Ahnung. Nur eines weiß ich ganz genau. Block 22B im Irrenhaus wird mich nicht so einfach los. Oder um es frei nach Andreas Möller zu sagen: FC Bayern oder FC Ingolstadt - Hauptsache HSV.