Marco Reus hat sich mit seiner guten Leistung von der Bank zum Stammspieler katapultiert. In China werden nun bereits seine Strähnchen gefeiert.

Danzig. Mit dieser Frage hatte Marco Reus am Morgen nach dem bislang "größten Tag seiner Fußballerkarriere" nicht gerechnet. Ob er eigentlich wisse, dass er sogar noch schönere Haare als Mario Gomez habe, wollte eine chinesische Journalistin von dem 23-Jährigen am Sonnabend wissen. Anders als auf dem Spielfeld, wo Reus, die hellblonden Strähnchen sorgfältig von rechts unten nach links oben gegelt, immer instinktiv und schnell handelt, brauchte er für seine Antwort diesmal ein paar Sekunden Bedenkzeit. Er versuche immer, das Beste aus sich herauszuholen, sagte er, und brachte den ganzen Saal zum Lachen, "über meine Frisur geht nichts. Aber natürlich hat auch der Mario sehr schöne Haare."

Nun kann man über Geschmack bekanntlich vorzüglich streiten, über Reus' Leistung in seinem wahrscheinlich besten Länderspiel am Vorabend nicht. Der flinke Flügelstürmer, der in der Mannschaft in Anlehnung an den dauersprintenden Zeichentrickspecht Woody Woodpecker genannt wird, spielte sich in seinen ersten 90 EM-Minuten direkt in die Herzen der deutschen Fußballnation. Reus rannte, Reus dribbelte, Reus trickste. Der Offensivallrounder suchte und fand die Lücken in der griechischen Abwehr, wechselte permanent mit Mesut Özil die Positionen und sorgte indirekt dafür, dass auch Özil sein bislang bestes EM-Spiel gelang. Sein Treffer zum 4:1 gegen Griechenland war der Höhepunkt eines Abends, "den ich bestimmt nie wieder vergessen werde". Mit letzter Kraft drosch der Neu-Dortmunder den Ball unter die Latte, nach Spielschluss musste er sich wegen eines Krampfes in der Wade behandeln lassen. "Ist aber nicht so schlimm", sagte Reus am Sonnabend, als er neben seiner Frisur auch zu sportlichen Details eines denkwürdigen Abends Stellung beziehen musste.

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Kurz vor dem Mittagessen am Spieltag hatte Joachim Löw dem Youngster in einem kurzen Vieraugengespräch Bescheid gegeben, dass er gegen Griechenland die lange erhoffte Chance erhält - und der Bundestrainer sollte nicht enttäuscht werden. "Marco hat das sehr, sehr gut gemacht", lobte Löw, der lediglich mit Reus' Chancenauswertung haderte. Gleich zweimal vergab der gebürtige Dortmunder in den ersten 25 Minuten, machte es dann aber in der 74. Minute mit seinem kompromisslosen Gewaltschuss unter die Latte wieder gut. Tatsächlich hätte wohl auch ein Streicheln des Balls mit der Innenseite gereicht, denn das Tor war leer. Aber diesmal ging das 70-Kilo-Leichtgewicht, das in der Nationalmannschaft ein echtes Schwergewicht werden will, kein Risiko ein. Der Treffer wurde, wie zuvor mit Jerome Boateng im Hotel einstudiert, mit einem Wellenreiterjubel zelebriert. "Marco ist ein super Kicker, er hat seine Chance bekommen und eindrucksvoll bewiesen, dass er sie verdient hatte", lobte Kollege Holger Badstuber.

Reus, so viel steht spätestens seit Freitagabend fest, ist in der Nationalmannschaft angekommen. Endlich. Gleich viermal musste er im vergangenen Jahr sein angestrebtes DFB-Debüt verletzt oder krank absagen. Erst im vergangenen Oktober durfte er dann im Qualifikationsspiel gegen die Türkei tatsächlich seinen ersten von bislang sieben Einsätzen feiern. Die obligatorische Debütantenrede im Anschluss wickelte er ähnlich schnell wie seine Sprints auf der rechten Außenbahn ab. Nach zwei Minuten hatte er alles gesagt.

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Alles gezeigt hat der Überflieger der Saison, der von englischen Zeitungen anerkennend "Rolls Reus" getauft wurde, dagegen noch lange nicht. Nachdem er in der abgelaufenen Bundesliga-Spielzeit Mönchengladbach sensationell auf einen Qualifikationsplatz zur Champions League geführt hat, wechselt er nun für 17,5 Millionen Euro zurück nach Dortmund, wo er zehn Jahre lang sämtliche Jugendmannschaften durchlaufen hatte.

Vater Thomas und Mutter Manuela, die beide in Danzig auf der Tribüne saßen, wohnen noch immer in einem Reihenhaus in Dortmund-Wickede. Im Garten steht ein Fahnenmast, an dem zuletzt mal die Gladbach-, mal die Deutschland-Fahne gehisst wurde. Nach der EM soll noch eine BVB-Fahne hinzukommen, so hat es Papa Reus zumindest angekündigt.

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Eine längere Eingewöhnungsphase muss Reus in Dortmund ohnehin nicht befürchten. Schon jetzt ist der "verlorene Sohn" im Mannschaftshotel Dwor Oliwski neben seinem Kumpel André Schürrle überwiegend im Kreise der Dortmund-Gang rund um Mario Götze zu sehen. "Wir sind auf einer Wellenlänge, haben immer Spaß zusammen", sagt Reus, der mit Beraterschwergewicht Volker Struth auch den gleichen Agenten wie Götze hat. Und noch eine Gemeinsamkeit: Beide haben ein Faible für blonde Spitzen, was sich sogar schon bis nach China herumgesprochen hat.

Abendblatt-Redakteur Kai Schiller schreibt täglich einen Brief aus dem DFB-Quartier nach Hamburg www.abendblatt.de/schillersbriefe