Hamburg. Matthias Sammer und Joachim Pawlik diskutieren über die richtigen Strategien zum Erfolg – und was den Weg dorthin behindert.

"Ein Quantum Mut“, so lautet das Motto des 16. Pawlik-Kongresses ab Montag im Gastwerk. Edward Snowden ist per Videoschaltung dabei, die Politiker Christian Lindner und Gregor Gysi sowie Ex-Bahnchef Rüdiger Grube werden bei der von Dunja Hayali moderierten Veranstaltung sprechen – und auch Matthias Sammer kommt. Zuvor bat das Abendblatt den früheren Nationalspieler mit Joachim Pawlik, dem Vizepräsidenten des FC St. Pauli und Leiter der Unternehmensberatung Pawlik Consultants, zum Gespräch zu der Frage: Wie mutig ist der Fußball?

Hamburger Abendblatt: Herr Sammer, sind Sie ein mutiger Mensch?

Matthias Sammer: Laufe ich abends alleine durch den Wald, hält sich mein Mut in Grenzen. Falls Sie auf meinen Lebensweg anspielen: Wenn Sie bei einem der besten Clubs der Welt (den Bayern, d. Red.) arbeiten und dennoch mit 48 Jahren beschließen: Jetzt reicht es mir – doch, da benötigen Sie durchaus eine Portion Mut.

Herr Pawlik, Sie gaben dem Kongress das Motto. Wie mutig ist denn der Fußball?

Joachim Pawlik: Jedenfalls mutiger als die Wirtschaft. Mut ist für mich nicht blindes Losrennen, sondern ein bewusstes Überwinden von Ängsten. Für mich war es eine interessante Erfahrung in den vergangenen drei Jahren als Vizepräsident des FC St. Pauli, dass die Niederlage und das Scheitern viel unmittelbarer sind als in der Wirtschaft. Während man im Wirtschaftskontext immer noch versucht, Dinge zu verstecken oder Ungeplantes gar nicht erst zuzulassen, ist man im Sport jede Woche gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen.

Mut ist aber doch auch die Bereitschaft zur Veränderung. Mangelt es im Fußball nicht daran?

Sammer: Da bin ich mir gar nicht so sicher. Aber wissen Sie, was der große Nachteil des Fußballs ist? Die Öffentlichkeit, die Begleitung der Medien, die zudem oft nur über Halbwissen verfügen. Da den Mut zu behalten, die wirklich relevanten Themen, die das Spiel und die Strategie zum Erfolg betreffen, klar zu benennen, das vermisse ich. Im Fußball wird viel lanciert, taktiert, Rücksicht genommen.

Pawlik: Es gibt ja nicht nur die Dimension, einen Schritt ins Neuland zu wagen, sondern auch einmal nicht das tun, was von einem erwartet wird.

Sie spielen darauf an, Ewald Lienen vergangene Saison nicht entlassen zu haben ...

Pawlik: … was der normale Mechanismus im Fußballgeschäft gewesen wäre. Das ist für mich Mut: seinen Weg zu gehen im Bewusstsein, damit scheitern zu können.

Sammer: Bravo. Dieses Handeln hat St. Pauli auch viel Respekt eingebracht. Ich bezweifle allerdings, dass der Fußball diesen Mut besitzt, aktuelle Probleme in einem Verein konstruktiv zu benennen und zu diskutieren, weil oft die persönliche Selbstdarstellung in den Vordergrund rückt. Ich möchte hier keine generelle Medienschelte betreiben, schließlich profitiert der Fußball extrem von diesem Bestandteil des Systems. Aber: Die Profilierung, die Eigenwahrnehmung in Medien ist eben auch ein süßes Gift.

Pawlik: Die Eitelkeit ist eine tägliche Kraftquelle. In der Wirtschaft gibt es inhaltliche Kritik, wenn etwas nicht funktioniert, im Fußball richtet sie sich dagegen auf eine Person, was diese Menschen im Mark treffen kann. Schnell treten so Sachentscheidungen in den Hintergrund.

Sammer: Denken Sie nur an den Umgang mit Trainern. Natürlich nehmen Sie eine Schlüsselposition in der Entwicklung einer Mannschaft ein. Aber es ist zu kurz gesprungen, im Misserfolg eine Mannschaft nicht in die Pflicht zu nehmen. Ich muss dabei an die Situation bei Borussia Dortmund denken ...

... wo die Euphorie um Trainer Peter Bosz verflogen ist.

Sammer: Und zwar in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit, die ich für gefährlich halte. Nach den ersten Spieltagen ist quasi schon ein Denkmal für ihn in Auftrag gegeben worden. Nun muss er als Prellbock für alles herhalten.

Pawlik: Dabei gibt es bestimmt fünf andere interne Gründe, die genauso für eine negative Entwicklung verantwortlich sind, über die aber keiner reden kann.

Sammer: Da brauchen Sie schon ein breites Kreuz, wenn Sie sich ungerecht behandelt fühlen.

Werden Trainer umgekehrt oft erst mutig, zum Beispiel mit dem Einbau von Talenten, wenn sie praktisch dazu gezwungen werden, weil alles andere nicht funktioniert hat?

Pawlik: Das wäre kein Mut mehr und hilft dem Erfolg am Ende nicht. Wenn Trainer nicht souverän entscheiden, folgt die Mannschaft sowieso nicht mehr.

Sammer: Richtig, eine gute Mannschaft spürt das. Vermutlich sprechen Sie Fiete Arp an. Gelingt es, so ein Talent einzubauen, ist das natürlich hilfreich, aber zumeist nur kurzfristig. Sollte er richtig gut werden, kann ihn der HSV vermutlich nicht halten. Auf einem Toplevel kommen Sie so nicht weiter.

In Hamburg kennt man sich eher mit Abstiegskampf aus. Was ist wesentlich für eine Clubführung, um in Krisensituationen richtig zu handeln und sich mittelfristig gegen die Konkurrenz behaupten zu können?

Pawlik: Ich möchte unseren wichtigsten Faktor so nennen: stimmig vor richtig. Damit meine ich: Es gibt immer verschiedene Optionen und Wege, im Kern müssen am Ende aber alle Verantwortlichen an einem Strang ziehen. In unserer kritischen Phase vergangene Saison haben wir intern sehr lange diskutiert, bis wir einer Meinung waren – und dann gemeinsam dafür gesorgt, dass nichts nach außen kommt.

Sammer: Leistung ist steuerbar, man kann sie entwickeln. Wenn man gewisse Faktoren benennt, weiß man zwar nicht, ob man am Ende Erster wird, aber unter die ersten drei kommt man in der Regel. Es geht nur über Strategien. Nehmen wir als Beispiel den DFB. Anfang 2000 hat man dort Modelle für eine bessere Nachwuchsförderung entwickelt. 2014 ist Deutschland deshalb nicht zufällig Weltmeister geworden. Wir hatten plan- und steuerbare Strukturen und Organisationsformen für einen alters- und entwicklungsgerechten langfristigen Leistungsaufbau. Das Geheimnis ist dabei, individualisiert vorzugehen.

Wie meinen Sie das?

Sammer: Ein Auto bauen Sie aus Bestandteilen zusammen und erhalten am Ende ein perfektes Ergebnis. Wer glaubt, beim Fußball geht das auch, befindet sich auf dem Holzweg. Jeder Spieler ist anders. Was aber auch bedeutsam ist: Vereinsführungen benötigen neben Mut, die richtigen Entscheidungen zu treffen, vor allem Fachwissen und auch vertrauensvolles Arbeiten, da stimme ich Herrn Pawlik zu. Sonst verlieren Sie die Kraft in Diskussionen und den Blick fürs Wesentliche.

Und übertragen auf die Vereine? Clubs wie der HSV wechseln ja häufig während einer Periode des Misserfolgs ihre Führung aus, was strategisches Handeln behindert.

Sammer: Es ist ja bekannt, dass ich mich auch einmal mit dem HSV befasst habe. Das ist schon ein spezieller Club mit seinen Gremien und Einflussfaktoren, die dem, was ich vorher gesagt habe, nicht immer gerecht werden. Aber mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Gerade bei Vereinen, die im Abstiegskampf stecken, agieren Spieler häufig ängstlich, spielen nicht mutig nach vorne. Wie kann man das verbessern?

Sammer: Das betrifft viele Vereine in der Bundesliga. Die Liga hat auch deshalb ein sportliches Problem in der Breite, weil zu viele Mannschaften verteidigen wollen.

Warum ist das so?

Sammer: Weil es einfacher ist. Und es hat auch etwas mit Mut zu tun. Du musst schon gut geordnet und strukturiert angreifen, um erfolgreich zu sein. Nehmen Sie die Nationalmannschaft. Da sehen Sie, wie Joachim Löw immer weiter am System feilt. Sie wollen den Ball haben, wollen agieren, nach vorne spielen. Deshalb nehmen sie eine fantastische Entwicklung. Klar, wenn ein Underdog gegen eine große Mannschaft verteidigt, ist das normal. Nur: Wenn du glaubst, dass dies auch die Strategie gegen ein Team auf dem gleichen Level sein kann, wird es schwierig, die Flexibilität fehlt. Dass hier die Liga an Qualität verloren hat, ist deutlich erkennbar.

Wie kann man die Spieler gezielt fördern?

Sammer: Den Fußballern wird enorm viel abverlangt. Sie sollen Markenbotschafter sein und gleichzeitig bescheiden auftreten. Alles Faktoren, die sich oft widersprechen. Ein Spieler wie ­Joshua Kimmich ist ein wunderbares Beispiel. Ihm gelingt es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf die Grundwerte des Fußballs: Leistung zu bringen und ein anständiger Kerl zu sein.

Pawlik: Die Reduzierung des Anspruchs an Fußballer ist für mich ein wichtiger Aspekt. In der Sekunde, in der wir diese Sportler als Heroen aufbauen, sind wir auf dem falschen Weg.

Aber wird Fußball nicht immer mehr Showbusiness?

Sammer: Klar, das ist ein ganz schmaler Grat bei der globalen Entwicklung des Fußballs und dem Kampf um Wettbewerbsfähigkeit. Aber hier reden wir vor allem von herausragenden Fußballern wie Ronaldo oder Messi. Das Authentische, das Wesentliche herauszuarbeiten, was den Fußball ausmacht, darf der Fußball nicht verlieren: Es geht um Leistung. Und hier muss die Bundesliga aufpassen, ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Sicher gibt es mit den Bayern und dem BVB gute Clubs, die international bestehen können. Aber was kommt dann? Diese Frage muss man kritisch analysieren.

Zum Abschluss noch eine mutige Frage an Sie, Herr Sammer. Wäre es nicht mutig, wenn St. Pauli den Stadionnamen verkaufen würde, verknüpft mit der Ankündigung, die Einnahmen in die Jugend zu stecken?

Sammer (lacht): Das miteinander zu verknüpfen ist unfair.

Pawlik: Ich kann das ausschließen.

Sammer: Wenn Sie das nicht tun wollen, hat das einen klaren Grund in Identität und Authentizität.

Pawlik: Es gibt noch 20 weitere Dinge, die wir niemals tun würden.

Ist Ihr Club dann nicht aber auch gefangen in seiner Ideologie und kann etliche mutige Dinge nicht angehen?

Pawlik: Zu Beginn meiner Amtszeit hatte ich die Befürchtung, dass es tatsächlich so sein könnte. Heute würde ich es als große Freiheit bezeichnen, als Fokussierung und Konzentration. Das gibt nebenbei auch der Vermarktung große Chancen, weil es den Kreis derer, mit denen wir arbeiten, exklusiver macht. Und es geht in einer Partnerschaft über den Austausch von Geld gegen Werbeflächen hinaus.

Es entsteht eine kulturelle Bande, wenn man sein Werteverständnis gemeinsam ausrichten kann. Das ist im Übrigen nicht mutig, sondern klug, weil am Ende sogar höhere Einnahmen generierbar sind.