Évian-les-Bains. Weil der Stürmer nach Italien wechselte, verpasste er die WM 2014. Gegen Italien gehört er nun zu den Hoffnungsträgern.

Mario Gomez war in Sorge geraten, er griff am Dienstagabend zum Telefon und schrieb Nachrichten an Freunde und Bekannte. An jene, die in Istanbul leben. Es ist die Stadt, die in jenen Stunden erneut Schauplatz eines terroristischen Anschlags wurde. Mindestens 41 Tote forderte der tödliche Angriff am Flughafen in der türkischen Metropole, der Stadt, in der Mario Gomez sein Geld als professioneller Fußballspieler verdient. Der Stadt, die ihm aus der Krise seiner Karriere verholfen hat.

Es macht ihn traurig, was dort vorgeht. Er ist gerade weit weg, in Frankreich. Der Fußball, sagt er, hilft, die Sorgen zu verdrängen. Das Spiel, an das er denkt, ist ein wichtiges: EM-Viertelfinale am Sonnabend (21 Uhr) in Bordeaux, Deutschland trifft mit dem Stürmer Mario Gomez auf Italien. Das Land, in dem die Karriere des heute 30-Jährigen so sehr an Höhe verlor, dass er vieles infrage stellte.

Vom Buhmann zum Hoffnungsträger: Mit Gomez gegen Italien

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    Gomez galt lang als Chancentod

    Heute liegt all das hinter ihm und vor ihm der malerische Genfer See von Évian mit Wattebauschwolken vor blauem Himmel. Gomez spricht leise, lächelt milde. Er wirkt wie einer, den das fortschreitende Alter und die Dinge, die ihm widerfahren sind, gelassen gemacht haben. Als junger Kerl schoss er den VfB Stuttgart 2007 zu einer überraschenden Meisterschaft, ein Jahr später wurde bei der EM aus ihm eine Witzfigur, weil er aus zwei Metern über das Tor schoss. Da fing das alles so richtig an, das Gerede von diesem Fußballer, der die Haare immer so schön und die Bauchmuskeln hart hat. Häufig musste sich Gomez Pfiffe von den eigenen Anhängern gefallen lassen.

    Für die damalige Rekordsumme von 30 Millionen Euro wechselte er 2009 zu den Bayern, traf zuverlässig, er gewann in München gleich in seinem ersten Jahr das Double, aber es begleitete ihn stets der Vorwurf, dass er sich außer mit Toren kaum am Spiel beteiligte. Kein Fußballer, wie ihn der damals neue Münchner Trainer und Ballspiel-Ästhet Pep Guardiola schätzt. Gomez, der Torjäger, der immer noch traf, wurde 2013 weggeschickt. Eine Kränkung war das.

    Ein Abstieg jagt den nächsten

    Der AC Florenz aus der ersten italienischen Liga wollte ihn, der in Italien nicht zuverlässig gehobenes Maß darstellt. Ein sportlicher Abstieg. Dann ging’s los: Verletzungen, Formkrisen, Fehlschüsse. Den WM-Triumph der Nationalmannschaftskollegen 2014 verpasste er deswegen. Die, mit denen er seit Jahren zusammen gespielt hatte, holten den größten aller Titel – und Gomez sah aus der Ferne zu. Nicht neidisch, aber grenzenlos enttäuscht.

    Italiener vor Duell mit Deutschland gelassen

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      Im Sommer 2015 wechselte Gomez zu Besiktas Istanbul, in die türkische Liga, die nicht gerade zu den stärksten in Europa zählt. Ein weiterer sportlicher Abstieg, so schien es. Aber am Bosporus blühte der Schwabe wieder auf, wurde in der vergangenen Saison Meister und Torschützenkönig, empfahl sich für die Europameisterschaft mit der Nationalelf. Sein Plan war aufgegangen. „Mein Antrieb war, noch einmal Teil dieser tollen Mannschaft zu sein. Ich bin stolz auf das, was passiert ist, und fühle mich so gut wie noch nie in meiner Karriere“, sagt der Angreifer.

      Gomez erlitt viele Rückschläge in Italien

      Gomez, so ist es wohl, hat den Ballast abgeworfen, diesen Drang, immer alles am besten sofort erreichen zu wollen. „Wenn man jung ist, dann stellt man sich vor, wo man mal spielen will, man lechzt immer nach dem nächsten Ziel“, sagt er. Nun genießt er das Hier und Jetzt. Wer hätte gedacht, dass die Anhänger der deutschen Nationalmannschaft bei einer EM seinen Namen rufen, seine Einwechslung fordern?

      Er musste erst durch die Tiefen Italiens, um sich in neue Höhen zu schwingen. „Ich hatte schwere Jahre in Florenz“, sagte er selbst noch vor dem Turnierbeginn. Immer wieder neue Rückschläge ereilten ihn, an manchen Tagen hatte er Probleme, sich zu motivieren. Er stellte sich Fragen: Warum ich? Was soll das Ganze? „In so einer negativen Zeit spürt man, welchen Stellenwert der Fußball hat.“

      Er wollte einfach nur spielen, glücklich sein. Istanbul bot ihm diese Perspektive. Vor ziemlich genau einem Jahr – rund um seinen Wechsel – entdeckte er, dass das Finale der EM auf seinen Geburtstag fällt: 10. Juli. Er sagte sich, dass das ein guter Tag werden solle. Dabei sein in Paris, darum ging es ihm. Ob er bis dahin ein Spiel gemacht hat oder drei oder gar keins, ihm egal, sagte er.

      Mal lieben, mal hassen ihn die Fans

      Zuletzt schickte ihn Bundestrainer Joachim Löw zweimal von Beginn an auf den Platz, beide Male war das deutsche Offensivspiel deutlich gefährlicher, beide Male traf er auf die typische Gomez-Art, die die Fans lieben, wenn er trifft, die die Fans hassen, wenn er nicht trifft.

      Richtig stehen, richtig lauern, einen Ballkontakt – und dann Glück oder Tragödie. Gomez hat auch damit gelernt zu leben, mit diesem Auf und Ab, das bei ihm noch sehr viel intensiver ausfällt als bei anderen. Mit fünf Toren bei Europameisterschaften ist er schon jetzt Deutschlands Rekordschütze – zusammen mit einem anderen bekannten Schwaben: Jürgen Klinsmann. „Ich genieße Fußball gerade sehr“, sagt Gomez.

      Gomez’ Zukunft ist völlig offen

      Im Viertelfinale gegen die Italiener dürfte Gomez seinen Platz in der ersten Elf sicher haben. Das Duell des Stürmers mit dem Land, in dem ihm dunkle Mächte scheinbar übel mitspielten, erhöht die ohnehin schon vorhandene Brisanz dieser Partie. Berichterstatter aus Italien rücken in diesen Tagen am deutschen Mannschaftsquartier an, um zu fragen, ob sich Mario Gomez jetzt rächen wolle für diese Zeit in Italien. Er lächelt milde und verneint leise: „Obwohl es sportlich nicht so lief, mag ich Italien noch sehr. Deswegen hege ich da keinen Groll.“

      Nach Istanbul war Gomez nur verliehen. Ab dem morgigen Freitag (1. Juli) ist er wieder vollwertiges Mitglied des AC Florenz. Dort läuft sein Vertrag noch ein Jahr. Wie es weitergeht? Der gereifte Mario Gomez lässt das offen. „Ich versuche so gut es geht, planlos zu sein. Ich kann mir vieles vorstellen, aber was, das werde ich nach dem Turnier entscheiden“, sagt er nur. Mit guten Leistungen kann er den weiteren Weg entscheidend beeinflussen.

      Möglich, dass es ihn aus unterschiedlichen Gründen weder nach Florenz noch nach Istanbul zurückzieht.

      Gomez: Alter der Italiener ist kein Thema

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