Über 3000 Fußballspieler über 50 Jahre jagen in Hamburg regelmäßig dem Ball nach. Auch die Supersenioren von Teutonia 05/10 sind nicht mehr ganz so schnell wie einst, aber noch genauso ehrgeizig

Hamburg. Halbzeit im Auswärtsspiel beim SC Condor. Durchatmen. Der Platz ist schmierig. Der Platz ist schwer. Da werden Schritte und Atem kurz. „KulleKahn“ wischt sich mit seinen Pranken ein paar Dreckspritzer von der XXL-Sporthose. Besonders von der Seite gleicht der Teutonia-Torwart dem unbesiegbaren Gallier Obelix. Der gleiche imposante Bauch, die gleichen enormen Oberarme. Mit Tattoos von Buffalo Bill, einem Indianerhäuptling und einem fauchenden Puma drauf. Werktags sitzt der 135-Kilo-Brocken in der Kabine eines Riesenkrans kirchturmhoch über dem Kai des Hamburger Containerhafens. Am Wochenende steht KulleKahn, bürgerlicher Name Karl-Heinz Domdey, im Tor und das erklärt „Kahn“ in seinem Künstlernamen – der „Titan“ von Teutonia halt.

Sollte ein gegnerischer Stürmer wagen, KulleKahn im Torraum anzugehen, er würde an dem Riesen abprallen, nein, zerschellen – doch das riskiert ohnehin schon lange keiner mehr. Bei den Supersenioren kennen sich die Mannschaften seit Jahren.

KulleKahn ist eine Stütze des Supersenioren-Teams der Spielgemeinschaft Teutonia 05/Teutonia 10 aus Hamburg-Ottensen. Supersenior hat nur bedingt mit Supermann zu tun. Supersenior ist, wer die Fünfzig erreicht hat. KulleKahn ist einer von denen, die das Kicken auch jenseits der goldenen Fünfzig einfach nicht lassen können. Allein in Hamburg gibt es über 3000 angegraute Gleichgesinnte. Sie alle eint die Liebe zu Doppelpass, Hackentrick Fallrückzieher oder Glanzparade. Es eint sie allerdings auch die leicht wehmütige Erkenntnis, dass diese Schaustücke fußballerischer Perfektion ihrer Vergangenheit angehören – wenn sie überhaupt jemals in ihrem Repertoire waren, Erinnerung verklärt bekanntlich.

Auf dem Fußballplatz vergessen viele die Sorgen ihres Alltages

„Der Kopf will noch“, sagt Roland Schmidt, Teutonias eisenharter Verteidiger, „aber der Körper kommt da heute oft nicht mehr ganz mit.“ „Schmidtl“, gelernter Starkstromtechniker und seit vielen Jahren Hausmeister eines Altenheims im feinen Othmarschen, ist als eines von neun Kindern in einer Zweieinhalbzimmerwohnung im Arbeiterviertel Altona aufgewachsen, „mit Klo auf dem Gang“. Er hat sich stets durchbeißen müssen. So hat der 58-Jährige auch immer Fußball gespielt und tut es heute noch. Seine Gegenspieler, an deren Knochen und Knorpel nicht selten schon die Arthrose nagt, verfluchen manchmal seine robuste Gangart. Auch an diesem Tag. Schmidtl stört das nicht. Weicheier. „Ich tue ja niemandem absichtlich weh“, meint er und lächelt freundlich, „aber ich fürchte, auch hier gehe ich wieder vom Platz und habe mir keine neuen Freunde gewonnen.“ Im Altenheim mache ihm die tägliche Konfrontation mit Tod und Hinfälligkeit schwer zu schaffen. „Auf dem Fußballplatz vergesse ich das alles und danke dem Himmel, dass ich noch so fit bin.“

Teutonia führt 1:0 und hat zusätzlich drei, vier Großchancen versiebt. Besonders Klaus, der Dünne, ein Filmemacher – „Werbung und so“ – mit den Elastikbandagen an beiden Knien, und dem festen Glauben, Yoga, gezielte Gymnastik und vegetarische Ernährung bewahrten seine knirschenden Knie vor dem finalen Breakdown. „Klaus, du wirst nicht bestraft, wenn du ein Tor schießt“, sagt Wolfgang, der Mannschaftsführer. Klaus lächelt leicht schief und nippt an seinem Mineraltrunk.

Wolfgang selbst kann heute nicht auflaufen. Auch er hat es mit den Knien. Zu sehr, um auf dem Platz seine legendäre Übersicht unter Beweis stellen zu können. So bleibt ihm nur, seine Truppe im Stil von Pep Guardiola zu coachen: „Leute, enger ran! Und ihr müsst die Außen besetzen!“ Sein FC Bayern nickt geschmerzt und geduldig. Der muss doch selber wissen, wie schwer die Beine schon nach 35 Minuten sind! Supersenioren spielen nicht zweimal 45, sondern zweimal 35 Minuten. Das ist der Altersrabatt.

Teutonias Sturmspitze Uli lässt sich den Rücken massieren. Spöttischer Zwischenruf aus dem Kameradenkreis: „Nicht zu fest, sonst kriegt er noch Gefühle!“ Uli hat mal oberste Amateurliga gespielt und ist noch immer ziemlich fit und ziemlich gut. Als Zweitsport fährt er Rennrad. Sein großes Ziel ist es, ein Rennen mit einem Schnitt von 40 km/h zu schaffen. Noch hängt er hauchdünn darunter bei 39,4 fest.

Die zweite Halbzeit läuft verheißungsvoll für Teutonia. Der Gegner hat nur zehn Mann zusammengebracht, keine Auswechselspieler auf der Bank, da bleibt die Puste noch schneller weg. Um Personalknappheit wie die des Gegners zu vermeiden, haben sich die Supersenioren von Teutonia 05 und Teutonia 10 zusammengeschlossen, obwohl die beiden Vereine sich grundsätzlich etwa so lieben wie Schalke 04 und Borussia Dortmund. Die zwei Teutonen-Clubs wurden trotz ihres deutschnationalen Namens vor dem Ersten Weltkrieg als Arbeitervereine gegründet. Die 05er waren eher sozialdemokratisch, die 10er kommunistisch geprägt (und deswegen unter Hitler verboten). Seither kickt man auf zwei Plätzen, die bloß ein paar Hundert Meter voneinander entfernt sind.

Die Supersenioren haben diese Rivalität aus Altersweisheit hinter sich gelassen. „Wir spielen einfach alle zu gerne Fußball und sind froh, so auf einen Stamm von zwanzig Mann zurückgreifen zu können“, sagt Spielmacher Kalle, 64, seit zwei Jahren Rentner und vorher Getreidekontrolleur im Hafen. Kalle sieht fast so aus wie Clark Gable mit Glatze, Bauchansatz und Schienbeinschonern ausgesehen hätte. Ein paar der Jungs, sagt der Ottenser Clark Gable, seien ja eigentlich immer verletzt. Oder unabkömmlich, weil sie auf die Enkel aufpassen müssen. Kalle hat sich auswechseln lassen, jetzt, wo die Condor-Zehn stehend K. o. ist und von der Teutonia-Elf überrannt, na sagen wir besser, übertrabt wird und Klaus endlich, endlich das hochverdiente 2:0 einnetzt.

Für ihn kommt Lothar und mit dem 70-jährigen Ex-Maurer Teutonias anrührendste Geschichte. Lothar trägt einen Diamanten im linken Ohrläppchen, ist gebräunt, fast faltenfrei und hat mehr Haare auf dem Kopf als der Rest der Mannschaft zusammen. Außerdem hat er vor zwei Jahren einen Herzinfarkt erlitten. Mitten auf dem Platz. Eineinhalb Stunden Blackout, vierzehn Tage Koma, zwei Jahre Reha. Und jetzt kickt er wieder und ist glücklich. „Nur Rasenmähen im Schrebergarten bringt es nicht.“

Draußen, auf der Ersatzbank und bei der sehr überschaubaren Fangemeinde legt man die Messlatte natürlich höher als auf dem Platz – man selbst kann und muss ja gerade nichts unter Beweis stellen. „Hallo, wir spielen hier kein Halma“, ruft die Teutonia-Bank einem wehklagenden Stürmer von Condor zu. Auch die eigene Mannschaft wird nicht verschont. Die schon gar nicht. „Mein Gott, der springt ja so hoch, da kriegst du nicht einmal eine Zeitung darunter“, kommentiert Mannschaftsbetreuer Dieter das dynamisch gemeinte Kopfballduell eines seiner Jungs. „Der glaubt noch immer, er ist Rastelli“, sagt spitz eine Spielerfrau angesichts eines knapp verhedderten Dribblings ihres Mannes.

Spielerfrauen an der Außenlinie sind bei den Supersenioren allerdings eher die Ausnahme. Die meisten Gattinnen ertragen die Kickerleidenschaft ihrer Männer aus der Distanz. Ihnen reicht es, von ihrem Helden zu Hause über seine Traumvorlagen schwärmen zu hören und den Eisbeutel für die schmerzende Wade zurechtzulegen. „Sie hat mich mit Fußball geheiratet, also wusste sie, was auf sie zukommt“, bringt Thomas, der Abwehrchef das Verhältnis Supersenior-Spielerfrau auf eine einfache Formel. Thomas fährt Lkw bei der Deutschen Post. Trotz zweimal gerissenen Kreuzbandes sei und bleibe er ein Fußballverrückter. „Das wird sich auch mit meiner Pensionierung nicht ändern.“

Abpfiff. 2:0-Sieg und ein „Hipp Hipp Hurra“ auf die Sportkameradschaft. Noch bevor es unter die Dusche geht, kreist die Bierflasche. Auch bei Auswärtsspielen hat Teutonia stets einen Kasten Bier im Gepäck. Dieter: „Unsere Trikots haben wir schon einmal vergessen, aber unseren Kasten Bier noch nie.“ Traditionell ist es Astra, wegen der gedrungenen Form der Flasche in Fachkreisen „die Knolle“ genannt. Alle sind zufrieden. Mit sich selbst und sogar mit dem Schiedsrichter. Der war heute ziemlich jung und pfiff nicht vom Mittelkreis aus. Das passiert sonst häufig, weil viele der Schiedsrichter noch älter sind als die Spieler. „Aber wir sind ja schon froh, wenn überhaupt einer kommt“, sagt Dieter. 15 Euro Aufwandsentschädigung treibt den Supersenioren-Matches nicht gerade die Spitzenkräfte unter den Unparteiischen zu.

Der Kasten Astra leert sich schnell. Nur die beiden Türken Kemal und Ismail und der Afghane Esmail halten sich beim Bier zurück. Esmail fährt nun seit 30 Jahren Taxi in Hamburg, hat das Fußballspielen noch in Kabul gelernt, hat nie geraucht, und als guter Moslem noch nie Alkohol getrunken oder Schweinefleisch gegessen, was bei gemeinsamen Grillabenden mit Schweinenackensteak misslich ist. Seine Tochter studiert Chemie. Abi-Schnitt 1,4. „Ohne eine einzige Nachhilfestunde.“ Esmail ist stolz auf sie.

Der Spieltag endet oft im „Heimspiel“, der Vereinskneipe von Teutonia 05

Trotz seiner Teutonia-unüblichen Abstinenz liebt der Afghane das „sportliche Gemeinschaftsgefühl“ bei den Supersenioren, genauso wie Klaus, der vegetarische Filmemacher, oder Kai, von Beruf Journalist und einer der ganz wenigen „Spätberufenen“ im Team . „Ich bin erst Mitte Vierzig zum Fußball gekommen, als mein Sohn in der Jugend von Teutonia anfing.“ Das sieht man seinem Spiel an. Doch gerade weil er im Kampf mit Ball und Gegner seine langen Beine ausgesprochen unorthodox einsetzt, ist er für alte Fußballer schwer auszurechnen. „Und außerdem hat Kai mehr Puste als die meisten“, lobt ihn Dieter.

Diese Freude an der kollektiven sportlichen Leistung in einem Alter, in dem viele Leib und Seele auf Schon- oder Rückwärtsgang umgestellt haben, ebnet die sozialen Unterschiede im Team ein. Vor dem Tor und vor der Knolle sind alle gleich. Der Rentner, der Filmemacher, der Langzeitarbeitslose, der Kranführer, der Innenarchitekt, der Taxifahrer, der Hausmeister, der Programmierer, der Nachtportier. Es ist eine sehr handfeste Art später Selbstverwirklichung. Die meisten der Supersenioren aus Ottensen würden dieses Wort allerdings nie benutzen.

Auf dem Rückweg schaut ein Grüppchen Unentwegter noch bei der Vereinskneipe von Teutonia 05 vorbei. Sie heißt Heimspiel. Unter den Schwarz-Weiß-Fotos längst vergangener Teutonia-Größen wird der siegreiche Nachmittag bei Condor noch einmal durchgekaut. Der Platz von Teutonia 05 liegt an der Kreuzkirche in Ottensen. Daher hat die Anlage im Volksmund den Namen „die Kreuze“. Und der Schlachtruf der Fans heißt: „Die Kreuze brennt!“ Mithilfe der einen oder anderen kühlen Knolle löschen KulleKahn und Co. im Heimspiel nach der Matchanalyse den Brand an der Kreuze auch an diesem Abend ohne größere Mühe.