Beim Prestigeduell gegen Spanien fehlen auch Neuer und Boateng

Nürnberg/Vigo. Die heftigen Stürme der vergangenen Tage haben sich gelegt, am Ankunftstag der Nationalmannschaft ist in Vigo ein Mix aus Sonne und Wolken bei für die Jahreszeit angenehmen 15 Grad vorhergesagt. Doch schon am Dienstag, wenn die DFB-Auswahl auf Spanien trifft (20.45 Uhr/ZDF), sollen wieder stundenlange, heftige Regenfälle in der Hafenstadt Galiciens einsetzen. Ein fußballerischer Leckerbissen zwischen entthrontem und amtierendem Weltmeister dürfte auf dem tiefen Rasen des 31.800 Zuschauer fassenden Estadio Balaidos kaum möglich sein – und es passt auch irgendwie zur Geschichte dieses Duells.

Stürmisch war das Jahr für beide Teams, auch in negativer Hinsicht. Nachdem die Spanier in Brasilien schmachvoll in der WM-Gruppenphase ausgeschieden waren, blamierte sich der Ex-Weltmeister und Europameister von 2008 und 2012 in der folgenden EM-Qualifikation mit der 1:2-Niederlage in der Slowakei. Als im September auch noch ein Freundschaftsspiel gegen Frankreich mit 0:1 verloren ging, erreichte das Aufregungslevel rund um die einst so stolze „La Roja“ ungeahnte Höhen. Ein souveräner 3:0-Erfolg gegen Weißrussland am Wochenende linderte die allgemeine Besorgnis etwas.

Wenn auf der anderen Seite ein Trainer in einem Jahr, in dem er den größtmöglichen Titel erringen konnte, davon spricht, dass er froh sei, wenn genau jenes Jahr endlich vorbei sei, sagt dies eigentlich alles aus über die Monate der DFB-Auswahl nach dem WM-Triumph von Rio. Fünfmal trat die Nationalelf seitdem an – ein überzeugendes Spiel sucht man vergebens. Dem vor allem in der zweiten Hälfte peinlichen Gebolze gegen Gibraltar (4:0) folgte ungewohnt harsche Kritik von Bundestrainer Joachim Löw an seinen Spielern, bei denen er „mehr Torgefahr, Abschlüsse!“ erwartet hätte: „Das war einfach viel zu wenig.“ Ungenannte Adressaten waren Lukas Podolski und Max Kruse. Löws Sehnsucht nach der Winterpause dürfte aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass sich zuletzt der Eindruck aufdrängte, die WM-Helden würden häufiger über rote Teppiche als über den grünen Rasen schreiten. Mit ihren aufgebrezelten Begleiterinnen erinnerten die Kicker immer stärker an Promis aus dem Showbiz. „Es war ein bisschen zu erwarten, dass nach dem großem Erfolg etwas Spannung abfällt und die Spieler im Kopf etwas müde werden“, sagt auch Löw.

Vicente del Bosque weiß nur zu genau, dass ein errungener Weltmeister-Titel kein Zustand ist, sondern eine Verpflichtung, das erreichte Niveau zu bestätigen . „Genau wie er emotional stark war, als er verloren hatte, muss er nun vergessen, dass er den Titel gewonnen hat, und nach vorn blicken“, rät der Nationalcoach Spaniens seinem Kollegen, „Siege in der Vergangenheit helfen dir nicht, das nächste Spiel zu gewinnen. Man sollte sich nichts einbilden und immer hinterfragen, was man macht, denn Zweifel sind immer positiv.“

Zu dieser Erkenntnis ist Löw allerdings längst gelangt. Um – wie es den Spaniern seit 2008 gelungen war – nicht nur ein singuläres Ereignis zu gewinnen, sondern eine Ära zu prägen, hat er 2015 deshalb zu einer Art Reformjahr ausgerufen, in dem er den Spielstil seines Mannschaft weiterentwickeln und verfeinern möchte. Wie ein 3-5-2-System mies funktioniert, zeigte sich aber gegen Gibraltar. Und welches Personal er einsetzen wird, ist an der einen oder anderen Stelle völlig offen. Wer Löw in Nürnberg zuhörte („Wir und auch Lukas müssen uns überlegen, was das nächste Jahr für uns bringt“), konnte nur zu dem Schluss kommen, dass die Tage Podolskis im DFB-Team gezählt sind, wenn der 121-fache Nationalspieler auf Vereinsebene nicht wieder zu alter Stärke zurückfindet.

Natürlich wäre es ungerecht, nicht darauf zu verweisen, dass Löw nach Rücktritten verdienstvoller Spieler (Lahm, Klose, Mertesacker) mit etlichen Verletzungen zu kämpfen hat. Neben Manuel Neuer (Knie) fehlt in Vigo auch Jerome Boateng (Wade), für ihn wurde Wolfsburgs Robin Knoche nachnominiert. Zum unbedeutenden Schau- und Auslaufen ist die Partie dennoch nicht verkommen. „Es ist ein Freundschaftsspiel, aber man kann es nicht als ein solches einordnen“, glaubt del Bosque, dem mit dem zurückgetretenen Xavi Hernandez und Xabi Alonso sowie den fehlenden Andrés Iniesta, David Silva, Cesc Fàbregas, Javi Martínez, Thiago ebenfalls einige Säulen weggebrochen sind. Andere Akteure nähern sich der finalen Phase ihres Schaffens. Im Tor dürfte nicht Iker Casillas, 33, stehen, sondern David de Gea. So gerät das Aufeinandertreffen zu einem Duell um die Zukunft: Wer hat die besseren Aussichten im Veränderungsprozess?

Bei der EM 1988 ist Deutschland der letzte richtige Sieg (2:0) über die Iberer gelungen. Beim 4:1-Erfolg im August 2000, dem ersten Spiel unter der Regie von Rudi Völler, kamen die Spanier quasi direkt aus dem Urlaub. 2003, beim 1:3 in Palma de Mallorca, gelang Fredi Bobic der letzte deutsche Treffer. Noch schmerzhaft in Erinnerung sind die Niederlagen im EM-Finale 2008 (0:1) und im WM-Halbfinale 2010 (0:1).

„Das Spiel gegen Spanien wird den positiven Eindruck von diesem Jahr nicht trügen, egal, wie es ausgeht“, ist Thomas Müller überzeugt. Aber: Folgt nun eine neuerliche Pleite, wäre nicht nur das zweite Halbjahr für die DFB-Auswahl gänzlich misslungen, sondern auch allen Beteiligten und Fans endgültig klar, dass selbst dem DFB kein unerschöpflicher Hort an schnell blühenden Mannschaften zur Verfügung steht. Auch Weltmeister müssen lernen.