Abendblatt-Kolumnist Felix Magath zieht seine Bilanz der WM 2014 in Brasilien. Messis Auszeichnung hält er für das falsche Signal

Keine Frage, es war ein interessantes, spannendes Finale zweier gleichwertiger Mannschaften – mit einem letztlich würdigen Weltmeister Deutschland. Allerdings hätten auch die Argentinier den Titel gewinnen können, worüber sich wohl niemand hätte beklagen dürfen. Sie hatten die klareren Torchancen, als Higuaín und später Palacio plötzlich frei vor Neuer auftauchten. Beide vergaben kläglich. Betrachtet man aber die Gesamtleistung im Laufe des Turniers, hatte diese kompakte, physisch starke deutsche Elf den Sieg dann doch ein bisschen mehr verdient.

Reduziert man das Finale jedoch um den Faktor Dramatik auf rein sportliche und spielerische Faktoren, haben wir unter den Ansprüchen, die wir an zwei der besten Mannschaften der Welt stellen, sicherlich kein überragendes Fußballspiel gesehen. Dafür unterliefen beiden Teams einfach zu viele Fehler. Am Ende eines langen Turniers und nach einer langen Saison konnte das aber keinen überraschen.

Kein nennenswerter Fehler passierte dem italienischen Schiedsrichter. Rizzoli hat das Spiel laufen lassen, es mit Übersicht und Augenmaß geleitet. Dass er angeblich schlimme Fouls nicht drakonisch bestrafte, wie es hier und da gefordert wurde, rechne ich ihm hoch an. Fouls gehören zu einem Kontaktsport wie Fußball, sie lassen sich unter höchstem Einsatz nicht vermeiden. Im Kampf um den Ball ist eben ein Spieler meistens schneller als sein Kontrahent, was zu unglücklichen Körperberührungen führen kann. Absicht aber war im Finale bei keiner dieser Aktionen zu erkennen. Insofern hat auch niemand eine Rote Karte provoziert, deren grundsätzlichen Sinn ich ohnehin in Zweifel ziehe. Zeitstrafen oder Geldstrafen wären angemessenere, weil weniger wettbewerbsverzerrende Sanktionen; es sei denn, jemand zielt wirklich auf die Gesundheit seines Gegenspielers ab. Solche Leute gehören natürlich sofort aus dem Verkehr gezogen.

Schwierigkeiten habe ich mit der Auszeichnung Lionel Messis als bester Spieler des Turniers. Bei allem Respekt für seine fußballerische Klasse, sein herausragendes Können am Ball, seine auch unter hohem Tempo enge Ballführung wie seine explosiven Antritte, es ist ein grundsätzlich falsches Zeichen für einen Mannschaftssport wie Fußball, einen Individualisten zu ehren. Messi hat zudem keine überragende Weltmeisterschaft gespielt. Er war nach seinen Verletzungspausen während der Saison in Brasilien nicht in Bestform, brauchte lange Kunstpausen, und er hat in den K.-o.-Spielen auch kein Tor mehr für Argentinien erzielt.

Ich frage mich, was noch alles passieren muss, damit sich ein deutscher Spieler diese Anerkennung verdient. Deutschland ist Weltmeister, und einer wie Bastian Schweinsteiger war für mich der auffälligste Feldspieler nicht nur des Finales. Er stellt seine Fähigkeiten stets in den Dienst der Mannschaft, es ist ja kein Zufall, dass die deutsche Elf bei dieser WM an Stabilität gewann, als er nach überstandener Verletzung ins Team zurückkehrte – und Philipp Lahm später auf die rechte Seite rückte.

Schweinsteiger ist in seiner Karriere bei der Beurteilung seiner Leistungen viel Unrecht getan worden. Er war immer ein außergewöhnlicher Mannschaftsspieler, der sich nie zu schade war, für seine Kollegen Bälle zu erobern, Räume zuzustellen, er war auch immer bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wir neigen aber offenbar dazu, Gefallen nur noch am Spektakulären zu finden. Das ist für mich eine fatale Entwicklung, weil dadurch dem Fußball die Grundlage entzogen wird. Allein das neidlose Zusammenwirken aller, das bedingungslose Miteinander schaffen die Voraussetzung für den sportlichen Erfolg. Die deutsche Mannschaft hat diese Tugenden in Brasilien unter Bundestrainer Joachim Löw eindrucksvoll entwickelt und am Ende triumphal bewiesen.

Der beste Spieler dieser WM war für mich Manuel Neuer. Er trägt zwar jetzt den Goldenen Handschuh als bester Torwart des Turniers, das aber würdigt seine Leistung nicht annähernd. Seine Präsenz im letzten Drittel des Spielfeldes wirkte nicht nur im Finale bei besagten Szenen mit Higuaín und Palacio einschüchternd, seine Souveränität, seine Ausstrahlung gaben seinen Nebenleuten zusätzlich Sicherheit.

Jerome Boateng, der beste, da konzentrierteste Boateng, den ich bisher gesehen habe, und Mats Hummels, ein Weltmeister des Stellungs- und Kopfballspiels, profitierten erheblich von Neuers Rückhalt. Hummels sollte es jedoch vermeiden, wie im Finale mehrmals geschehen, sich auf Laufduelle einzulassen. Er hat andere Stärken.

Deutschland ist Weltmeister, Argentinien Zweiter, doch es waren bei dieser WM nicht unbedingt die beiden Finalisten, die in Brasilien den attraktivsten Fußball boten. Begeistert haben mich eher die Auftritte Costa Ricas, Kolumbiens, Chiles, Mexikos oder Algeriens. Das Problem dieser Mannschaften bleibt, dass die meisten ihrer Spieler es bislang nicht gewohnt sind, über längere Phasen auf diesem Niveau gefordert zu werden. Sie haben schon in der Vorrunde Spiele voller Leidenschaft und Intensität gezeigt, als wenn es für sie kein Morgen gäbe. Das überstieg, als es in den K.-o.-Runden ernst wurde, ihre Kräfte. Wenn diese Mannschaften lernen, geschickter zu taktieren, können sie Weltmeister werden. Genug Talent und Willen haben sie.

Die beste Schule des Weltfußballs ist für mich deshalb die europäische Champions League. Hier kann jeder Spieler im Wettkampf mit den Besten der Welt reifen. Alle deutschen Stammkräfte haben diese Erfahrung über Jahre machen dürfen. Das hat sie geprägt wie die Bundesliga; für mich weiter die beste nationale Klasse der Welt, weil hier Wochenende für Wochenende alle an ihre Leistungsgrenzen gehen müssen. Jeder Sportler wächst an seinem Gegner, je besser diese sind, desto mehr profitiert er von dieser Konkurrenz.

Arbeiten die Bundesligavereine, Deutscher Fußball-Bund (DFB) und Deutsche Fußball Liga (DFL) weiter derart professionell zusammen wie in den vergangenen zehn Jahren, kann sich der Triumph von Rio 2018 in Moskau wiederholen. Der deutsche Fußball hatte schon immer großes Potenzial, das beweisen die acht WM-Endspielteilnahmen seit 1954, doch jetzt kommen noch ein paar Talente mehr dazu. Das macht uns nicht unschlagbar, aber wahrscheinlich auf längere Zeit zu einer festen Größe im Weltfußball. Um große Titel zu gewinnen, bedarf es jedoch stets auch des nötigen Quäntchen Glücks – oder eben eines Neuers.